GLOBALISIERUNG

Deutschland fürchtet die Deindustrialisierung – Wie proaktive Regionalpolitik Abhilfe schaffen kann

In einer neuen Studie für das Forum analysiert Jens Südekum, welche Lehren sich aus dem deutschen Kohleausstieg für andere vom Wandel betroffene Regionen ziehen lassen, welche Rolle innovative Moonshot-Projekte dabei spielen – und warum die Politik proaktiver werden muss.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

12. DEZEMBER 2022

LESEDAUER

6 MIN

Die Industrieregionen in Deutschland stehen unter Stress. Durch die Energiekrise drohen regionale Ungleichheiten, die durch Jahrzehnte der schlecht gemanagten Globalisierung immer weiter verschärft wurden, noch größer zu werden. Einzelnen Regionen fürchten den Abstieg, dort sind Umsätze und Arbeitsplätze gefährdet. Deindustrialisierung und Wohlstandserosion drohen dabei vor allem abseits der großen Städte. Hier stehen einzelne Regionen durch die unausweichlichen Herausforderungen der wirtschaftlichen Transformation ohnehin stark unter Druck: die Produktion muss klimafreundlicher werden, stärker digitalisiert, weniger abhängig von Vorleistungen autokratischer Regime; und all das muss in einem Umfeld mit rasch alternden Belegschaften, Fachkräftemangel, gestressten globalen Wertschöpfungsketten und wachsender sozialer Ungleichheit geschehen. Und ein Blick in die USA (und den Osten Deutschlands) zeigt, wo Industriearbeiter ihre Jobs verlieren, da entsteht schnell Nährboden für (rechts-) populistische Kräfte.

Nicht zuletzt aus diesem Grund bekommt die proaktive Regionalpolitik zur Unterstützung und Abfederung lokaler Transformationsprozesse immer größere Aufmerksamkeit – in Ökonomenkreisen ebenso wie in der Politik. Indem sie versucht, den räumlichen wirtschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, ist die Regionalpolitik zu einem Versuch geworden, sich vor dem Hintergrund der Transformation gegen populistische Trends abzusichern und Industrien, Regionen ebenso wie die liberalen Demokratien insgesamt zu retten.

Die neu gewonnene Bedeutung der Regionalpolitik analysiert Ökonom Jens Südekum in einem jüngst veröffentlichten Forum-Papier und diskutiert, inwiefern der Kohleausstieg als Exempel für andere vom Wandel betroffene Regionen und somit eine erfolgreiche proaktive Industriepolitik dienen kann.

Der Paradigmenwechsel in der Regionalpolitik

Über Jahrzehnte wurde Regionalpolitik laut Südekum eher reaktiv betrieben. Gehandelt wurde meist erst dann, wenn die lokalen Arbeitsmärkte bereits massiv unter Druck geraten waren. Dies hing nicht zuletzt mit dem dominanten ökonomischen Paradigma zusammen, das, basierend auf dem Rosen-Roback-Modell (einer räumlichen Version des neoklassischen Gleichgewichtsmodells) besagt, dass Regionalpolitik im großen Maßstab ineffizient sei und sich ökonomisch nicht rechtfertigen ließe. Dieser Behauptung liegt die Annahme zugrunde, dass Arbeitnehmer ebenso wie Unternehmen innerhalb eines Landes völlig mobil sind und ihren Standort daher optimal wählen. Politische Maßnahmen, die diese Wahl verzerren, z.B. indem sie die Wirtschaftstätigkeit von den produktiven Kernstädten in unproduktive abgelegene Gebiete umleiten, führen demnach zwangsweise zu Produktivitäts- und Produktionsverlusten auf nationaler Ebene. Die Politik solle daher dem Laissez-faire-Prinzip folgen. Zwar beherrschte laut Südekum dieses Paradigma in seiner Reinform die tatsächliche Politikgestaltung weder in Europa noch in den USA je vollständig. Dennoch war proaktive Regionalpolitik lange Zeit eher verpönt.

Doch die jüngste theoretische und empirische Forschung stellt das traditionelle räumliche Gleichgewichtsmodell und seine Annahme, dass ortsbezogene Maßnahmen lediglich eine ineffiziente Einmischung in die marktbasierte Ressourcenallokation darstellen, zunehmend in Frage.

Gemeinsam mit den durch den Transformationsprozess bedingten Herausforderungen und politischen Entwicklungen wie dem Brexit-Votum 2016 oder der Wahl von Donald Trump, hat der ökonomische Paradigmenwechsel die proaktive Regionalpolitik bei den etablierten Wirtschaftswissenschaftlern wieder salonfähig – und relevant – gemacht.

 

„Ein zeitgemäßerer Ansatz zur Regionalpolitik könnte eine proaktive Haltung einnehmen. Die Politik sollte nicht warten, bis die lokalen Arbeitsmärkte unter Druck geraten, bevor sie handelt. Vielmehr könnte sie versuchen zu antizipieren, welche Regionen in ihren anstehenden und laufenden Transformationsprozessen mit akuten Problemen konfrontiert werden.“
Jens Südekum

Der deutsche Kohleausstieg als Beispiel für proaktive Regionalpolitik

 Im Juni 2018 setzte die Bundesregierung ein einmaliges Beratungsgremium (die „Kohlekommission“) ein, um Pläne für den Ausstieg aus der Braunkohleförderung in Deutschland zu entwickeln und gleichzeitig die Anpassungslasten für die betroffenen Regionen zu verringern. Die Empfehlungen der Kommission wurden im Januar 2019 vorgelegt und führten schließlich zur Ratifizierung von zwei Gesetzen im Juli 2020. Das erste Gesetz („Kohleausstiegsgesetz“) enthält einen detaillierten Zeitplan für den Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2038 sowie Ausgleichszahlungen für die Betreiberfirmen. Das zweite Gesetz („Strukturstärkungsgesetz“) schafft die Grundlage für umfangreiche Strukturhilfen für die Regionen in Deutschland, in denen der Braunkohleabbau räumlich konzentriert ist. Laut Südekum fällt dabei vor allem auf, wie viel Geld die betroffenen Regionen erhalten – mit umgerechnet 2 Millionen Euro pro Arbeitsplatz wesentlich mehr als das, was Regierungen normalerweise für Strukturanpassungsprogramme oder andere regionalpolitische Maßnahmen ausgeben.

Südekum zufolge lässt sich dies einerseits dadurch begründen, dass die Überkompensation potenzieller Verlierer notwendig sei, um politische Unterstützung für die Klimapolitik zu erkaufen, deren Nutzen sich erst langfristig materialisiert. Tatsächlich waren einige Braunkohleregionen bei früheren Wahlen Hochburgen des Rechtspopulismus, mit AfD-Stimmenanteilen von teils über 40 %. Offensichtlich besteht die Sorge, dass weitere Arbeitsplatzverluste durch den Niedergang der Braunkohleindustrie diese Unzufriedenheit noch verstärken könnten. Dies gelte insbesondere dann, wenn benachteiligte Regionen in der Vergangenheit einmal erfolgreich waren und dann schmerzhafte Verluste und Umwälzungen ihrer lokalen Industriestrukturen hinnehmen mussten, die in der Bevölkerung Ressentiments schürten. Bestes Beispiel laut Südekum sei die deutsche Lausitz, deren Niedergang seit Jahrzehnten andauert – zuerst angefacht von der deutschen Wiedervereinigung und später von der um sich greifenden Globalisierung.

Andererseits aber biete der Kohleausstieg der Politik die Chance, ein Testlabor für die industrielle Transformation zu schaffen. Die regionalen Subventionen für die Kohlereviere seien daher nicht die reine Kompensation für das Auslaufen eines wichtigen Industriezweigs, sondern vielmehr eine Keimzelle für eine klar definierte Forschungs- und Entwicklungsstrategie, für ergänzende Infrastrukturen und für die Skalierung innovativer Produktionstätigkeiten und neuer, grüner Technologien. Schließlich, so Südekum, durchlaufe nicht nur die Braunkohleindustrie derzeit einen tiefgreifenden Strukturwandel, sondern auch viele andere Sektoren, darunter auch die Flaggschiff-Automobilindustrie mit ihren 1,6 Millionen Beschäftigten. Eine finanzielle Zuwendung in vergleichbarer Höhe zu den Kohlesubventionen sei in diesen Regionen jedoch nicht zu erwarten, so Südekum. Möglich ist so eine massive Subvention nur, weil es bei der Kohle um drei begrenzte Regionen geht.

Umso wichtiger sei es, dass die Kohlereviere ihrer Rolle als Modellregionen und Laboratorien gerecht würden, damit andere Regionen später die Möglichkeit hätten, die erfolgreichen Elemente zu kopieren. Laut Südekum habe sich die Umsetzung dieses Grundsatzes in der Praxis aber bisher nicht bewährt. Bahnbrechende, explorative Maßnahmenpakete, sogenannte Moonshot-Projekte, also z.B. innovative Technologien gegen den Klimawandel, seien kaum umgesetzt worden. Zu häufig folgten die Ansätze ausgetretenen Pfaden. Nicht zuletzt sei das auch damit zu erklären, dass die lokalen Akteure überfordert waren, schnell genügend geeignete Projekte zu benennen, um die großzügigen Mittel zu verbrauchen.

„Damit wird die Chance verpasst, zu erproben, wie leistungsfähig eine proaktive Regionalpolitik sein könnte und wie man ihr Potenzial voll ausschöpfen kann.“
Jens Südekum

Schwerwiegendere Probleme bei der Transformation seien laut Südekum vor allem in solchen Regionen zu erwarten, die überwiegend kleine und hochspezialisierte Unternehmen beherbergen. Diese Unternehmen investierten oft nicht mehr in Weiterbildung und Umschulungen, genau das, was die Beschäftigten bräuchten, um neue Stellen zu finden. Hier sei proaktive Regionalpolitik umso mehr gefordert.

Die ganze Studie.

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Nach drei Jahrzehnten schlecht gemanagter Integration ist die Globalisierung durch soziale Unzufriedenheit und den Aufstieg populistischer Kräfte bedroht. Es gilt dringend die negativen Nebeneffekte auf viele Menschen zu beheben - und klarer zu definieren, welche Herausforderungen auf lokaler oder regionaler, und welche über Grenzen hinweg angegangen werden sollten.

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