GLOBALISIERUNG
Die Neudefinition des deutschen Exportmodells
Zur Frage nach einer besser gesteuerten Globalisierung in Zeiten geopolitischer Risiken präsentierte Shahin Vallée (DGAP) den Entwurf eines vom Forum in Auftrag gegebenen Papiers, in dem er mögliche Derisking-Instrumente für die deutsche Wirtschaft analysiert. Seine vorläufigen Ergebnisse diskutierte er mit Katrin Kamin (IfW), Dalia Marin (TUM), Klaus Deutsch (BDI) und Sebastian Dullien (IMK) beim XII New Paradigm Workshop am 08.05.2023.
VON
MAREN BUCHHOLTZVERÖFFENTLICHT
12. MAI 2023LESEDAUER
5 MINSeit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist das traditionelle und geopolitisch naive deutsche Wirtschaftsmodell des exportorientierten Wachstums auf den Prüfstand geraten. In einem vom Forum in Auftrag gegebenen Papier analysieren Shahin Vallée (DGAP) und seine Co-Autoren Sander Tordoir (CER) und Sebastian de Quant (DGAP) mögliche Derisking-Politikinstrumente für Deutschland. Der Schlüssel dazu ist eine genaue Identifizierung der deutschen Anfälligkeiten gegenüber China und eine klare Definition der Risiken nach Sektoren.
Zu Beginn seines Vortrags wies Vallée darauf hin, dass die meisten deutschen Spitzenunternehmen nach wie vor in hohem Maße von den Exporten nach China abhängig sind. Die Exportzahlen der deutschen Automobilhersteller könnten allerdings bald sinken, wenn sich der Trend einer rasant steigenden Fahrzeugproduktion in China fortsetzt. Im Bereich der Elektromobilität werden die Exporte chinesischer Unternehmen voraussichtlich in einigen Jahren weltweit führend sein. Die Stärkung klimafreundlicher Technologien stellt daher ein wichtiges Instrument zur Diversifizierung der deutschen Wirtschaft dar.
Abgesehen von der hohen Exportabhängigkeit Deutschlands betonte Vallée, dass die jüngsten Entwicklungen bei den Kapitalströmen noch mehr Anlass zur Sorge geben. Darüber hinaus scheint es an Kohärenz zu mangeln, wenn es um Investitionen in kritische europäische Infrastrukturen geht, wie die jüngsten Entscheidungen über den Hamburger Hafen (v.a. im Vergleich zu Rotterdam und Piräus) zeigen. Daher wird die europäische Zusammenarbeit bei der Festlegung einer Derisking-Strategie in den kommenden Jahren von entscheidender Bedeutung sein. Nach Ansicht von Valleé wirft die Diskussion über einen Industriestrompreis in Deutschland die Frage auf, ob andere europäische Länder fiskalisch in der Lage sein werden, eine solche Strategie zu verfolgen, und ob mehr europäische Solidarität erforderlich wäre.
"Das Derisking wird weitreichende allokative und distributive Konsequenzen in Europa haben".
Die Podiumsteilnehmer Katrin Kamin (Institut für Weltwirtschaft, IfW), Dalia Marin (Technische Universität München), Klaus Deutsch (Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI), Sebastian Dullien (Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, IMK) waren sich einig über die Schwierigkeit, die relevanten Risikofaktoren zu identifizieren. Katrin Kamin (IfW) erläuterte, dass für eine effektive Derisking-Strategie vor allem bessere Daten („Supply Chain Intelligence“) benötigt werden. Die Beschaffung ausreichender Daten über Inputs und Outputs entlang der gesamten Lieferkette sei jedoch keine triviale Aufgabe, wie sie betonte:
"Ich sehe wirklich, dass viele Unternehmen selbst ihre gesamte Lieferkette nicht kennen. Und das ist ein großes Problem, denn wir können nicht wirklich alle Schwachstellen bewerten, wenn wir diese Informationen nicht haben."
Wie kann Deutschland, insbesondere der Automobilsektor, einen „China-Schock“ vermeiden?
Dalia Marin (TU München) argumentierte, dass Deutschland die chinesische Industriepolitik und die US-amerikanische Innovationspolitik nachahmen sollte. Zum Beispiel sollte sich Deutschland darauf konzentrieren, ausländische Direktinvestitionen von chinesischen Batterieunternehmen, asiatischen Halbleiterfirmen und israelischen KI-Firmen in Joint Ventures anzuziehen, so Marin. Mit Blick auf das US-Beispiel der DARPA stellte sie sich vor, dass eine vertiefte europäische Militärkooperation letztlich zu mehr (technologischer) Innovation führen könnte.
Sebastian Dullien (IMK) betonte, dass eine umfassende Bewertung des geopolitischen Risikos keine leichte Aufgabe sei, da sich die politischen Umstände, auch in den USA, schnell ändern könnten. Darüber hinaus ist der wirtschaftliche Schaden, der aufgrund von Unterbrechungen der Lieferkette entsteht, schwierig zu beziffern, wie das jüngste Beispiel der Halbleiterknappheit gezeigt hat. Dullien plädierte daher dafür, dass die Unternehmen Stresstests für die Lieferkette durchführen sollten.
Klaus Günther Deutsch (BDI) äußerte zu diesem Vorschlag die Ansicht, dass das Management von Lieferkettenrisiken in erster Linie in der Verantwortung der Unternehmen, ihrer Aufsichtsgremien und der Finanzmärkte liegen sollte. Er räumte jedoch ein, dass die Märkte geopolitische Risiken derzeit nicht ausreichend in den Aktienbewertungen und Kreditkonditionen der Unternehmen einpreisen.
In der Diskussion betonte Shahin Vallée nochmals, dass obgleich sich das Papier auf China fokussiert, eine Definition von Derisking nicht nur die Handelsbeziehungen mit China, sondern auch mit Ländern umfassen sollte, die selbst vollständig von China abhängig sind, sowie mit autokratischen Staaten und solchen, die derzeit eine Erosion der Demokratie erleben. Laut Vallée sollte ein neuer deutscher politischer Rahmen für das Derisking in eine europäische Strategie eingebettet sein, die möglicherweise nicht mit der China-‚Containment‘-Strategie der USA übereinstimmt und auf den Aufbau einer multipolaren Welt abzielen sollte.