GLOBALISIERUNG

Disentangle Populism – On the brink of the next populist surge?

Alles über Populismus: ein Rückblick auf den Berlin Summit "Winning back the people", Mai 2024

VERÖFFENTLICHT

6. JUNI 2024

Die Lösung

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Bertolt Brecht, 1953

Adam Tooze zitierte dieses Gedicht von Bertolt Brecht in seiner Grundsatzrede auf dem Berliner Gipfel, als er den Konferenztitel „Das Volk zurückgewinnen“ so sorgfältig sezierte. Er argumentierte, dass die Bezugnahme auf „das Volk“ – oder wie Hillary Clinton es nannte: „die Bedauernswerten“ – anstelle von bestimmten Klassen, Gruppen oder Einzelpersonen Brechts satirischer Lösung ähnelt, das Unbequeme einfach aufzulösen. Populisten scheinen sich jedoch nicht in Luft aufzulösen. Im Gegenteil, sie haben in den letzten zehn Jahren fast überall an Popularität gewonnen, und das Misstrauen gegenüber den etablierten demokratischen Institutionen ist stark gestiegen, sei es in den USA, im Vereinigten Königreich, in Italien oder Frankreich. Nun steht die nächste Welle bevor: ob mit der möglichen Wiederwahl von Donald Trump im November – oder schon vorher in der EU und in Ostdeutschland.

Um diesen Trend zu wachsendem Unmut und Misstrauen zu stoppen, ist es wichtig herauszufinden, was die Ursachen dafür sind. Einer erfolgreichen Behandlung muss eine korrekte Diagnose vorausgehen. Andernfalls läuft man Gefahr, nur die Symptome zu behandeln. Dementsprechend diskutierten führende Populismusforscher auf dem Panel Disentangle Populism – On the brink of the next populist surge die Ursachen für die wachsende Unzufriedenheit.

Eine bekannte Erklärung konzentriert sich auf die Globalisierung und den Handel, um populistische Stimmen zu erklären – vor allem in den USA, aber teilweise auch in Europa. Demnach hat sich der Welthandel in den 80er und 90er Jahren beschleunigt und nach dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 noch weiter beschleunigt. Nach dem marktliberalen Paradigma sollte dieser so genannte China-Schock keine Auswirkungen auf die (vermeintlich) flexiblen Arbeitsmärkte in den USA haben, die jeden Arbeitsplatzverlust auffangen würden. Doch es kam anders, denn der Handelsschock war mit erheblichen Anpassungskosten und Verteilungsfolgen sowohl auf regionaler als auch auf individueller Ebene verbunden: Aus kurzfristiger Arbeitslosigkeit wurde Langzeitarbeitslosigkeit, und es folgten weitere schlechte soziale Folgen: Abwärtsmobilität, kaputte Straßen, steigende Kriminalitätsraten, Tod aus Verzweiflung. Dies steht in direktem Zusammenhang mit Trumps Erfolg in wichtigen Swing States wie Michigan, Pennsylvania und Wisconsin. Während die Situation in Deutschland anders war, da es von Chinas großem Exportmarkt und der Integration Osteuropas in den Binnenmarkt profitierte, waren andere europäische Länder wie Italien viel stärker betroffen. Wenn die Diagnose richtig ist, dass Globalisierung und Handelsschocks zu Populismus führen, dann scheinen protektionistische Maßnahmen im Sinne von Bidens jüngsten Zöllen das richtige Rezept zu sein. Gleichzeitig rechtfertigen die hohen Kosten einer fragmentierten Welt ein gezieltes und ausgewogenes Vorgehen.

Eine drängende Frage im Zusammenhang mit Populismus ist, ob psychologische/kulturelle oder wirtschaftliche Faktoren entscheidender sind. In dem Versuch, beide Faktoren zu berücksichtigen, unterstrich ein Diskutant die wechselseitige Beziehung zwischen wirtschaftlichen und psychologischen Triebkräften des Populismus auf der Grundlage einer qualitativen Forschung in vier europäischen Ländern (Frankreich, Deutschland, Polen und Italien). Obwohl eine klare Definition von Populismus oft fehlt, beinhalten die meisten Begriffe das Gefühl, zurückgelassen zu werden, sei es in sozialer oder wirtschaftlicher Hinsicht. Dieses Gefühl ist oft mit einem gefühlten Statusverlust verbunden. Der Wohlstand ist fragil und im Niedergang begriffen (z. B. im Rostgürtel nach dem China-Schock) oder potenziell im Niedergang begriffen, und die politischen Eliten werden dafür verantwortlich gemacht. Dieses Phänomen, das sich am besten mit dem Begriff der nostalgischen Deprivation beschreiben lässt, ist ein Gefühl, das einer sozioökonomischen Realität gegenübersteht. Auf der Grundlage ihrer Forschungen zu den US-Wahlergebnissen in den Swing States betonte eine andere Diskutantin, dass nicht die absolute wirtschaftliche Unsicherheit eine Rolle spiele, sondern die relative zur Vergangenheit. Nicht unbedingt die Ärmsten wählen den rechten Flügel, sondern die, die im Niedergang begriffen sind.

Darüber hinaus sind wirtschaftliche Ängste oft in tiefere und umfassendere menschliche Erfahrungen eingebettet, einschließlich persönlicher Hoffnungen (die oft enttäuscht wurden). Dies deckt sich gut mit der Arbeit von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger, die den Aufstieg des libertären Autoritarismus mit „gekränkter Freiheit“ erklären. Anhand von Interviews mit Anhängern der AfD oder Teilnehmern von Coronavirus-Demonstrationen arbeiten sie diese verdinglichte Vorstellung von Freiheit heraus, die weniger als Recht, sondern vielmehr als Besitz verstanden wird. Eine Freiheit, die in Zeiten von Polykrisen und großen Umwälzungen gefährdet ist.

Angesichts der Tatsache, dass wirtschaftliche Unsicherheit und Angst (zumindest bis zu einem gewissen Grad) für den Anstieg populistischer Stimmen verantwortlich sind, wird Vertrauen zu einem entscheidenden Teil der Gleichung. Der Gedanke des (falschen) Vertrauens hilft auch zu erklären, warum selbst erfolgreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen nur begrenzte Auswirkungen haben können. Ist das Vertrauen einmal verloren, lässt es sich nur schwer wiedergewinnen. Zwei Faktoren können das tiefe und lang anhaltende Gefühl des Misstrauens noch verstärken. Erstens ein unsicheres und weniger vorhersehbares Umfeld, in dem tiefgreifende strukturelle Veränderungen bevorstehen (grüner und digitaler Wandel). Zweitens die (wahrgenommene) positive Leistung der Populisten an der Macht. Wie ein Diskussionsteilnehmer anmerkte, besteht die Gefahr darin, dass Populisten durch nichts daran gehindert werden, eine gute Wirtschaftspolitik zu betreiben. Die Asymmetrie zwischen negativen und positiven wirtschaftlichen Schocks und Maßnahmen legt die Messlatte für die Wiedergewinnung von Vertrauen höher. Dies könnte auch durch einen Attributionsbias verstärkt werden, bei dem die Menschen negative Ergebnisse der Politik oder dem Pech zuschreiben, während sie positive Ergebnisse für sich verbuchen, wie Stefanie Stantchevas Untersuchungen zur Inflation zeigen.

Psychologisch gesehen löst die Nostalgie für die Vergangenheit gepaart mit Misstrauen für die Zukunft die Unzufriedenheit der populistischen Wähler aus. Eine weitere zentrale Emotion, die sich der Populismus als politische Strategie zunutze macht, um Wahlen zu gewinnen, ist die Wut. Wie könnte eine Gegenstrategie aussehen? In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass ein Wahlsieg nicht immer mit der Umsetzung der besten Politik (Good Governance) einhergeht. Wenn eine missionsorientierte Industriepolitik die Gegenstrategie gegen den Populismus ist, stellt sich die Frage, ob die Mission (grüner Wandel) gut mit den Präferenzen der Bevölkerung übereinstimmt, wo wirtschaftliche Faktoren wie Lebenshaltungskosten, Migration oder Gesundheitsfürsorge offenbar vor Klima und Umwelt rangieren (siehe zum Beispiel die jüngsten YouGov-Umfragen im Vereinigten Königreich). Ein weiterer Punkt, der insbesondere bei Mehrheitswahlsystemen zu berücksichtigen ist, ist die Frage möglicher Alternativen, die sich ebenfalls auf die Wahlbeteiligung auswirken kann. Eine niedrige Wahlbeteiligung kann ein Zeichen für eine unzureichende Vertretung der Interessen der Wähler sein.

Die Diskussion über die Triebkräfte des Populismus machte deutlich, dass psychologische Erklärungen wie Nostalgie, Misstrauen und das Gefühl, zurückgelassen zu werden, in einen spezifischen sozioökonomischen Kontext wirtschaftlicher Unsicherheit und Angst eingebettet sein müssen. Wie einige Teilnehmer betonten, bedeutet dies nicht, dass andere Faktoren, wie z. B. einwanderungsfeindliche Stimmungen, nicht wichtig sind. Es bedeutet vielmehr, dass mit einer gezielten Wirtschaftspolitik Brechts Lösung, „das Volk“ aufzulösen, obsolet wird.

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KNOWLEDGE BASE

Nach drei Jahrzehnten schlecht gemanagter Integration ist die Globalisierung durch soziale Unzufriedenheit und den Aufstieg populistischer Kräfte bedroht. Es gilt dringend die negativen Nebeneffekte auf viele Menschen zu beheben - und klarer zu definieren, welche Herausforderungen auf lokaler oder regionaler, und welche über Grenzen hinweg angegangen werden sollten.

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