NEUES LEITMOTIV

Die New Paradigm Papers des Monats September

Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

12. SEPTEMBER 2022

LESEDAUER

7 MIN

Die Rolle der Löhne in der Eurozone

Lucio Baccaro & Tobias Tober

In den Debatten über die Ursachen der Krise in der Eurozone dominieren aus Sicht der politischen Ökonomie zwei Ansichten. Die erste Sichtweise sieht in der asymmetrischen Entwicklung des Lohnniveaus in der Eurozone die Hauptursache für die Krise. Die zweite Ansicht besagt, dass Ungleichgewichte im Lohnniveau und damit in der Wettbewerbsfähigkeit eine direkte Folge der Kapitalströme vom Zentrum der Eurozone in ihre Peripherie sind. Diese Kapitalströme haben die Investitionen angekurbelt und damit zu einer Überhitzung der Binnennachfrage geführt, was wiederum zu Lohnsteigerungen und Preisinflation in der Peripherie führte. In einer neuen Arbeit gehen Lucio Baccaro und Tobias Tober diesen beiden Argumentationssträngen nach und bewerten sie zum ersten Mal gemeinsam. Unter Berücksichtigung der Finanzströme untersuchen sie, inwieweit die Entwicklung der Nominallöhne durch die Institutionen der Lohnverhandlungen (z.B. Gewerkschaften) erklärt werden kann. Entgegen der ersten Auffassung stellen sie fest, dass die Finanzströme die Nominallohninflation besser vorhersagen als die Tarifverhandlungsstruktur, und kommen zu dem Schluss, dass die Arbeitsmarktperspektive die Auswirkungen der Lohnverhandlungsinstitutionen überbewertet. Sie stellen jedoch auch fest, dass die Lohnentwicklung für die Handelsleistung und das Niveau der bilateralen Exporte innerhalb der Eurozone von Bedeutung war. Dies galt für Deutschland, aber nicht so sehr für andere Länder mit koordinierten Lohnverhandlungssystemen. Die Ergebnisse widersprechen der These, dass die Länder der Peripherie ihre Misere hätten verhindern können, wenn sie nur das Lohnwachstum gedämpft und strengere Arbeitsmarktreformen durchgeführt hätten. Im Gegensatz dazu hätte eine Ankurbelung des Lohnwachstums in Deutschland den deutschen Überschuss in der Handelsbilanz verringern und somit zur Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Eurozone beitragen können.

Jenseits des Outsourcing: Die Wiedereinbettung des Staates in die Produktion öffentlicher Werte

Mariana Mazzucato & Rosie Collington

Wie sieht der moderne Staat aus und welche Rolle spielt er bei der Steuerung der wirtschaftlichen Aktivitäten? Sollte er eine aktive Rolle im Produktionsprozess spielen? In ihrem jüngsten Beitrag argumentieren Mariana Mazzucato und Rosie Collington vom UCL, dass der Staat nicht nur für die Schaffung von öffentlichen Gütern als unverzichtbar angesehen werden sollte, sondern dass seine Entkopplung vom Produktionsprozess seine Lernfähigkeit untergräbt und es ihm erschwert, sich an veränderte gesellschaftliche und ökonomische Anforderungen und Bedürfnisse anzupassen. Angesichts der sich ständig ändernden Herausforderungen, die sich aus der sozioökonomischen Krise ergeben, könnte dies die Fähigkeit von Ländern beeinträchtigen, der Krise und ihren Folgen entgegenzuwirken. Die beiden Ökonominnen beleuchten, wie die jahrzehntelange, vom neoliberalen Paradigma geprägte Politik zu einer zunehmenden Auslagerung von Tätigkeiten des öffentlichen Sektors an private Akteure geführt hat, beispielsweise im Bereich des Wohlfahrtsstaates. Während sich die öffentliche Meinung darüber, welche Güter von der Regierung im Namen der Öffentlichkeit legitimerweise geschaffen und aufrechterhalten werden sollte, im Laufe der Zeit ändert, sei es nur konsequent, den Staat in die Lage zu versetzen, die für die öffentliche Wertschöpfung erforderlichen Ressourcen und Fähigkeiten neu zu konfigurieren, wenn sich die Anforderungen ändern. Dies sei jedoch nicht möglich, wenn die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, die öffentlichen Wert schaffen, ausgelagert werde, wodurch die Fähigkeit des Staates zu lernen, sich anzupassen und zu innovieren untergraben werde. Daher plädieren Mazzucato und Collington dafür, dass der Staat seine Rolle als produktiver Akteur in der Wirtschaft wieder aufnimmt und in den Prozess der Produktion öffentlicher Güter eingebunden wird.

„Da der Staat für eine legitime Regierungsführung und öffentliche Wertschöpfung von Bedeutung ist und die Fähigkeit des Staates davon abhängt, die Mittel zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen anzupassen, um auf die sich ändernden Anforderungen zu reagieren, müssen staatliche Organisationen nicht nur in Prozesse des Agenda-Setting und der bürokratischen Verwaltung, sondern auch in die Produktion eingebettet werden.“

Auf der Suche nach Wachstumsimperativen im Kapitalismus: Geld, Lohnarbeit und Markttausch

Louison Cahen-Fourot

Der Streit um die Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und Klimaschutz schwelt unablässig. Während der Umfang wachstumskritischer und postwachstumsorientierter Literatur rasant wächst, läuft parallel dazu eine Diskussion über die Ursprünge des Wachstumszwangs im Kapitalismus. Befürworter des Wirtschaftswachstums argumentieren, dass es für ein reibungsloses und stabiles Funktionieren der Wirtschaft, zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und für das individuelle und kollektive Wohlergehen unerlässlich sei. Wachstumskritiker hingegen weisen regelmäßig auf die Unvereinbarkeit von kontinuierlichem Wachstum mit den planetarischen Grenzen und endlichen Ressourcen hin. Doch woher kommt der kapitalistische Wachstumsimperativ? In einem kürzlich erschienenen Beitrag bricht der Ökonom Louison Cahen-Fourot mit dem prominenten Argument, dass der Wachstumsimperativ im Geldsystem, d.h. im zinstragenden Schuldgeld, verwurzelt sei, und argumentiert stattdessen, dass der Wachstumsimperativ aus den sozialen Beziehungen des Kapitalismus, dem Markttausch und der Lohnarbeit entsteht. Während die Debatten um den monetären Wachstumsimperativ oft von den institutionellen Arrangements und den sozialen Beziehungen abstrahierten, in die die Geldschöpfung eingebettet ist, konzentriert sich die Argumentation von Cahen-Fourot auf die sozialen Beziehungen als Haupttriebfeder für die Notwendigkeit von Wachstum in kapitalistischen Volkswirtschaften. Der Beitrag erläutert die Kontroverse um die Debatte um den Geldwachstumsimperativ, erörtert Gegenargumente und leitet politische Überlegungen ab, die die Schnittmenge von Wachstum und Ökologie aus diesem neu entwickelten Standpunkt der sozialen Beziehungen berücksichtigen.

Kurbeln Steuersenkungen für Unternehmen das Wirtschaftswachstum an?

Sebastian Gechert & Philipp Heimberger

Die Behauptung, dass eine Senkung der Unternehmenssteuern zu einem höheren Wirtschaftswachstum führt, ist nach wie vor weit verbreitet und hat in Politikerkreisen zu erheblichen Diskussionen geführt. In den letzten Jahrzehnten haben Regierungen auf der ganzen Welt die gesetzlichen Körperschaftssteuersätze gesenkt, weil sie diesem Narrativ folgten. Die empirische Literatur zu diesem Thema ist jedoch uneindeutig: Die Ergebnisse reichen von wachstumssteigernden über wachstumsmindernde bis hin zu gar keinen signifikanten Auswirkungen von Körperschaftssteuersenkungen auf das Wachstum. Eine neue Studie von Sebastian Gechert und Philipp Heimberger analysiert einen Datensatz von 42 Primärstudien unter Verwendung von Meta-Regressionsmethoden, um herauszufinden, welche Faktoren dazu beitragen, die drastischen Unterschiede in den berichteten Auswirkungen von Unternehmenssteuern auf das Wirtschaftswachstum zu erklären, und um die ökonometrische Evidenz über die durchschnittliche Effektgröße besser zu verstehen, wenn die Ergebnisse der Primärliteratur zu einem größeren statistischen Bild zusammengefügt werden. Dabei finden die Autoren Hinweise auf eine Publikationsverzerrung, die Studien begünstigt, die über wachstumsfördernde Auswirkungen von Körperschaftssteuersenkungen berichten. Bereinigt man diese Verzerrung, ergibt sich ein wesentlich diffuseres Bild, das die Hypothese stützt, dass Unternehmenssteuern tatsächlich keine statistisch signifikanten Auswirkungen auf das Wachstum haben.

Unter den Faktoren, die die Unterschiede in den gemeldeten Schätzungen beeinflussen, stellen Heimberger und Gechert fest, dass die Forscher bei der Messung von Wachstum und Unternehmenssteuern sowie bei anderen Haushaltskomponenten voneinander abweichen. Zudem finden sie heraus, dass neuere empirische Studien weniger wachstumsfördernde Auswirkungen von Körperschaftssteuersenkungen feststellen als ältere. Dies könnte auch ein Ergebnis einer differenzierteren und ehrlicheren Debatte zum Thema sein, die durch das Bröckeln des vorherrschenden neoliberalen Narrativs erleichtert wird.

The three phases of financial power: Leverage, infrastructure, and enforcement

Benjamin Braun & Kai Koddenbrock

In den letzten Jahrzehnten ist die Wirtschaft in hohem Maße finanzialisiert worden. Dieser Prozess der Finanzialisierung hat sich auf Volkswirtschaften in der ganzen Welt ausgewirkt. Der Einfluss des Finanzsektors reicht heute weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus in die soziale und politische Sphäre. All dies ist gut erforscht. Es gibt jedoch noch große Lücken in unserem Verständnis der Fähigkeit des Kapitalismus, sich selbst zu reproduzieren, obwohl er höchst instabil ist und massive Ungleichheiten verursacht. Wie konnte der Finanzsektor schnell und derart unversehrt aus der globalen Finanzkrise hervorgehen? Eine neue Studiensammlung versucht, diese Frage zu beantworten. Das einleitende Kapitel, verfasst von Benjamin Braun & Kai Koddenbrock, wurde kürzlich veröffentlicht. Darin entwickeln die Autoren einen Analyserahmen für die politische Ökonomie des globalen Finanzwesens, der im Gegensatz zu typischen Analysen, die sich auf Deregulierung und den Abbau von Grenzen für internationale Kapitalströme konzentrieren, die Fähigkeit des globalen Finanzwesens zum Ausgangspunkt nimmt, finanzielle Forderungen zu schaffen, sie am Leben zu erhalten und gegenüber Schuldnern durchzusetzen. In diesem Sinne beziehen sich Kapitalforderungen auf den Prozess, in dem Kapital und Kapitalisten Anspruch auf die Gesellschaft erheben und sie für sich arbeiten lassen. Finanzielle Ansprüche können in Form von Finanzinstrumenten bestehen, in den Bilanzen von Finanzinstituten gehalten werden oder in Gesetzen verankert sein, die die Macht des Finanzsektors gegenüber dem Rest der Welt festigen. Braun und Koddenbrock zufolge sind Kapitalisten in der Lage, ihre Ansprüche durchzusetzen, weil sie über drei verschiedene Formen von Macht verfügen: Leverage, infrastrukturelle Macht und Durchsetzungsmacht. Durch die Betonung von Hierarchie und Macht ist die Studiensammlung in der Lage, auch die Verteilungsimplikationen finanzieller Ansprüche zu beleuchten.

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