NEUES LEITMOTIV

Die New Paradigm Papers des Monats Juni

Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.

VON

MAREN BUCHHOLTZ

VERÖFFENTLICHT

7. JUNI 2022

LESEDAUER

8 MIN

Narratives about the Macroeconomy

Peter Andre, Ingar Haaland, Christopher Roth, Johannes Wohlfart.

Narrative und Erklärungsansätze über Wirtschaftsphänome scheinen sich deutlich zu unterscheiden, je nachdem ob Bürger oder Ökonomen befragt werden.  In dieser neuen Studie wurden über 8.000 US-amerikanische Haushalte und 100 Wirtschaftswissenschaftler zu Gründen für und Erwartungen über die Inflation in den USA zwischen November 2021 und April 2022 befragt. Die Haushalte antworteten tendenziell häufiger mit angebotsseitigen Erklärungen (z. B. Energiepreise, Lieferketten, Arbeitskräftemangel) als mit nachfrageseitigen Faktoren (z. B. Erholung des Konsums nach Covid-19-Lockdowns, lockere Geldpolitik, höhere Staatsausgaben). Insgesamt scheinen sie in ihren Antworten auch anfälliger für politisierte Narrative wie staatliches Missmanagement und Preistreiberei von Unternehmen. Experten antworteten vielschichtiger und verwiesen häufiger als die Haushalte auf die Geld- und Fiskalpolitik. Die Studie zeigt auch, wie Erzählungen über die Inflation, z. B. in den Medien, die Zukunftserwartungen beeinflussen können. Um diesen Effekt zu messen, fragten die Forscher nach den Inflationserwartungen, nachdem sie verschiedene Inflationsnarrative präsentiert hatten. In einer Kontrollgruppe gab es kein solches Framing, was zu statistisch signifikant unterschiedlichen Ergebnissen führte. Das Experiment zeigte laut der Autoren Folgendes: „Unterschiedliche Narrative veranlassen die Menschen dazu, aus denselben Fakten unterschiedliche Schlüsse zu ziehen“.

Advancing the Monetary Policy Toolkit through Outright Transfers

Sascha Buetzer

Wie kann die Geldpolitik sowohl wirksamer als auch gerechter werden? Sascha Buetzer schlägt dazu Outright Transfers (OT) als eine Form von Helikoptergeld vor. Er argumentiert, dass OT in einer stagnierenden Wirtschaft nützlich sein könnte, wenn die Zinsuntergrenze erreicht ist und die Transmissionskanäle der Geldpolitik beeinträchtigt sind. Dies ist besonders relevant für eine Währungsunion ohne fiskalische Koordinierung wie die Europäische Union. Bützers Berechnungen zufolge könnte ein dauerhafter Transfer in der Größenordnung von 1,5 % der EZB-Bilanzsumme das nominale BIP um 1 % steigern (unter der Annahme eines Fiskalmultiplikators von 1 und einer marginalen Konsumneigung von 0,8). Neben direkten Transfers könnte OT auch in Form von durch die Zentralbank ausgegebenen digitalen Währungen (CBDC) oder unbefristeten Nullkuponkrediten erfolgen. In jedem Fall sollte sie von der Inflationsrate abhängig sein und nur von Zentralbanken verfolgt werden, sofern diese eine übermäßige politische Einflussnahme ausschließen können.

Wealth and Its Distribution in Germany, 1895-2018

Thilo N. H. Albers, Charlotte Bartels, Moritz Schularick

Albers et al. liefern neue Erkenntnisse über die Vermögensungleichheit in Deutschland in den letzten 125 Jahren und stützen sich dabei auf historische Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Mikrodaten aus Haushaltsbefragungen sowie journalistische Reichenlisten. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis zwischen Vermögen und Einkommen deutlich höher ist als in der amtlichen Statistik. Sowohl Unternehmens- als auch Immobilienvermögen scheinen in der amtlichen Rechnung systematisch unterschätzt zu werden. Parallel zum starken Anstieg des Immobilienvermögens hat sich das Unternehmensvermögen im letzten Jahrzehnt verdoppelt. Während der Immobilienboom in den letzten drei Jahrzehnten teilweise den Haushalten der Mittelschicht zugutekam, die Wohneigentum besaßen, fiel der Anteil der unteren Hälfte der Bevölkerung am Gesamtvermögen von 5 % im Jahr 1978 auf 2,8 % im Jahr 2018. Dies führt die Autoren zu der Schlussfolgerung, dass sich die Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen erheblich vergrößert hat. Darüber hinaus weisen die Autoren darauf hin, dass die Datenqualität der deutschen aggregierten Vermögensdaten und Mikrodaten noch verbessert werden muss.

Der internationale Vergleich zeige, dass der Vermögensanteil der obersten 1 % und die Vermögens-Einkommens-Relation trotz einem weitgehend ähnlichen Muster folgten wie in anderen westlichen Ländern: Die Hyperinflation in der Zwischenkriegszeit und die beiden Weltkriege wirkten als ‚große Gleichmacher‘. Im Falle Deutschlands wurde dies durch eine Vermögenssteuer verstärkt, die als Teil des ‚Lastenausgleichs‘ nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde. Seitdem liegt der Vermögensanteil der obersten 1 % weiterhin bei etwa 20-25 %. Auch das Verhältnis zwischen Vermögen und Einkommen entwickelte sich im Großen und Ganzen U-förmig wie in anderen westlichen Ländern.

The Great Carbon Arbitrage

Tobias Adrian, Patrick Bolton und Alissa M. Kleinnijenhuis

Nach der jüngsten Zusage der G7, aus der Kohle auszusteigen, legt eine neue Studie des INET Oxford nahe, dass der Umstieg auf erneuerbare Energien für alle Länder wirtschaftlich sinnvoll wäre und zu Nettogewinnen in der Größenordnung von 1,2 % des globalen BIP (ca. 78 Billionen $) führen würde. Die Forscher kommen zu diesem positiven Gegenwartswert (die sog. „Kohlenstoffarbitrage“), indem sie die Kosten, einschließlich der erforderlichen Ausgaben für erneuerbare Energien und der Entschädigungen für Kohleunternehmen für entgangene zukünftige Gewinne, von den Vorteilen abziehen, die sich aus den sozialen Kosten von 75 $ pro Tonne ergeben (eine Schätzung des IWF 2019). Bei ihren Berechnungen gehen die Forscher von einem Zeitplan für den Kohleausstieg aus, der auf dem ‚Net Zero 2050‘ Szenario des Network for Greening the Financial System (NGFS) basiert. Darüber hinaus modellieren sie einen Kohleausstieg, der zur Hälfte durch Solarenergie und zur Hälfte durch Off- und Onshore-Windenergie ermöglicht wird.

Die Autoren sprechen sich über den CO2-Preis hinaus für umfassende staatliche und private Investitionen in die Erneuerbaren aus. Sie schlagen eine Koalition aus Regierungen, Investoren und Kohleunternehmen vor, die sich um eine Aufstockung der globalen Klimafinanzierung bemühen sollte, insbesondere mittels öffentlich-privater Partnerschaften. Die fortgeschrittenen Volkswirtschaften sollten entsprechend ihrer höheren historischen Verantwortung für die globale Erwärmung den Löwenanteil bereitstellen, und die Unternehmen müssen möglicherweise für die Einstellung der Kohleförderung entschädigt werden, wie im Falle des deutschen Kohleausstiegs. Ein größeres Bewusstsein über die immensen sozialen Kosten des Klimawandels kann möglicherweise dazu beitragen, die politökonomischen Probleme, die eine ambitionierte globale Klimapolitik derzeit behindern, zu lösen.

The Race Between Tax Enforcement and Tax Planning: Evidence From a Natural Experiment in Chile

Sebastian Bustos, Dina D. Pomeranz, Juan Carlos Suárez Serrato, José Vila-Belda, Gabriel Zucman

Diese neue Fallstudie befasst sich näher mit der Umsetzung der OECD-Leitlinien für Verrechnungspreise in Chile. Durch die Verabschiedung eines neuen Gesetzes gegen Gewinnverschiebung durch multinationale Konzerne im Jahr 2011 wurde das Land „vom Nachzügler zum Vorreiter“ bei der internationalen Besteuerung. Die Auswertung von Unternehmenssteuer- und Zolldaten deutet jedoch darauf hin, dass sich die Steuerreform nicht auf Gewinnverlagerungen ausgewirkt hat. Die Autoren vermuten, dass für multinationale Unternehmen kein Anreiz bestand, ihre Steuerstruktur zu ändern, und dass sie ihre Strategien zur Steuerminimierung beibehielten. So habe sich etwa die Praxis der konzerninternen Zahlungen von Lizenzgebühren, Zinsen und Dienstleistungen zum Zwecke der Steueroptimierung trotz des neuen Gesetzes nicht grundlegend geändert. Darüber hinaus stellten die Autoren in Interviews mit Steuerexperten fest, dass die Zahl der von den Big 4 beschäftigten Steuerberater nach 2011 um das Zwölffache gestiegen ist. Die Autoren kommen daher zu dem Schluss, dass die Steuerbehörden die Rolle der Steuerplanungsbranche berücksichtigen und die Berichtsanforderungen entsprechend gestalten sollten.

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