EUROPA

Was würde eine populistische Regierung für Italien und den Euro bedeuten? Short Cut mit Lucio Baccaro und Holger Schmieding

Umfragen zufolge werden die Italiener in weniger als zehn Tagen eine rechte Koalition wählen. Würde eine solche populistische Regierung Italien in eine neue Schuldenkrise führen? Darüber haben wir mit Holger Schmieding und Lucio Baccaro gesprochen.

VON

FORUM NEW ECONOMY

VERÖFFENTLICHT

21. SEPTEMBER 2022

LESEDAUER

3 MIN

Umfragen zufolge werden die Italiener in weniger als zehn Tagen eine rechtsgerichtete Koalition unter der Führung von Giorgia Meloni und ihrer Partei, den Brüdern Italiens (Fratelli d’Italia), wählen. Wird eine solche populistische Regierung Italien in eine neue Schuldenkrise führen? Ende August hatten Hedgefonds bereits die größte Wette gegen italienische Schulden seit 2008 abgeschlossen. Was würde das für den EU Recovery Plan und die damit verbundenen Reformen bedeuten? Und wie würde sich eine nationalistische Koalition auf den dringend benötigten Prozess einer engeren EU-Integration auswirken?

 

Darüber haben wir wenige Tage vor der Wahl in unserem New Economy Short Cut mit dem Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Lucio Baccaro und Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding am 21. September um 14 Uhr via Zoom diskutiert.

 

Bei dieser Diskussion analysierten Lucio Baccaro und Holger Schmieding die tieferliegenden Faktoren der italienischen Schuldendynamik und diskutierten Handlungsoptionen sowohl für Italiens Wirtschaftspolitik als auch für die Europäische Währungsunion (EWU). Lucio Baccaro gab zu Beginn einen Überblick der wirtschaftlichen und politischen Lage Italiens. Seiner Ansicht nach leidet die italienische Wirtschaft weiterhin an einer unzureichenden ökonomischen Integration in die EWU. Deren „dysfunktionale Architektur“ habe vor allem diejenigen Mitgliedsstaaten mit einem export-orientierten Wachstumsmodell (wie z.B. Deutschland) und einem kredit-getriebenen Wachstumsmodell (wie z.B. Irland) begünstigt. Einige grundlegende Charakteristiken der italienischen Wirtschaft (z.B. die Größe des Exportsektors) schließen diese spezifische Art von Wachstumsmodell aus. Vielmehr erforderten sie wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Förderung der inländischen Nachfrage. Die tatsächliche Wirtschaftspolitik habe – unter anderem durch Druck aus der EU – lange Zeit jedoch eher einer angezogenen Handbremse geähnelt. Die Strukturreformen, die insbesondere nach 2008 umgesetzt wurden, hätten zu Austerität und zu sozialen Härten geführt. Aller Reformen zum Trotz sei es nicht gelungen, wesentliche Wachstumsimpulse zu setzen und die daraus resultierende Unzufriedenheit in der Bevölkerung habe die politische Landschaft destabilisiert.

 

Beide Diskutanten teilten die Einschätzung, dass Italien keine unmittelbare Schuldenkrise droht. Die Ankündigung der EZB im Juli 2022 für ein neues TPI-Programm („Transmission protection instrument“) könne man als Signal deuten, dass diese ihre Rolle nicht grundlegend verändern und dass sie im Notfall einschreiten werde. Lucio Baccaro erklärte, dass die Schuldendynamik, die im Unterschied zu allen anderen EWU-Ländern während der letzten zwanzig Jahre in Italien durch eine im Schnitt positive Zins-Wachstums-Differenz geprägt war, eine besonders schwierige Ausgangslage für die Fiskalpolitik darstellt.

 

Im Gegensatz dazu sprach sich Holger Schmieding für wachstumsfördernde Reformen im Staatswesen (Bürokratieabbau) und auf dem Arbeitsmarkt aus. Diese seien nötig, um höhere Wachstumsraten zu erzielen, die wiederum das Zinsniveau absenken und somit den Schneeball-Effekt der bereits ungünstigen Schuldendynamik abwenden. Lucio Baccaro hingegen sah für weitere Arbeitsmarktflexibilisierung keinen Spielraum, da die Reallöhne bereits seit zwei Jahrzehnten stagnieren. Während hinsichtlich der Frage danach, wie die deutschen Arbeitsmarktreformen Anfang der 2000er zu bewerten seien, Dissens herrschte, sahen beide für gewisse Reformen „der zweiten Generation“, etwa in der Verwaltung und im Rechtssystem, Potential. Aus dem Publikum auf Zoom wandte Antonella Stirati ein, dass Austerität nicht zu den erwünschten Wachstumserfolgen geführt, sondern eher im Gegenteil einschneidende negative Folgen hinterlassen habe. Sie erklärte, dass etwa die öffentlichen Investitionen in Italien nach der Krise deutlich stärker gekürzt worden seien als in anderen europäischen Staaten.

"Wir brauchen einen viel aktiveren öffentlichen Sektor, einen aktiveren Staat, einen Staat, der den grünen Wandel direkt in die Hand nimmt." - "Wir können es uns nicht leisten, nicht in den grünen Wandel zu investieren".

Laut Lucio Baccaro wird eine Dekarbonisierung der Wirtschaft, die hauptsächlich auf private Investitionen und öffentlich-private Partnerschaften setzt, nicht ausreichen. Um die benötigten grünen Investitionen in der gesamten EU zu ermöglichen, sei es nötig, die europäischen Fiskalregeln zu überarbeiten. Baccaro argumentierte, dass eine tiefgreifende Reform nicht nur wirtschaftlich sinnvoll, sondern auch populär wäre. In Umfragen seines Instituts hätten sich die deutschen und italienischen Wähler offen gegenüber einer umfassenderen Risikoteilung innerhalb der Eurozone (inkl. gemeinsamer Schuldenaufnahme) gezeigt. Holger Schmieding zeigte sich optimistischer hinsichtlich der von der EU bereits zugesagten grünen Investitionen. Seiner Einschätzung nach würde eine Entscheidung über eine gemeinsame Verschuldung eine Einigung über neue Konditionalitäten voraussetzen.

Die gesamte Diskussion als Re-Live

ZUM THEMA EUROPA

KNOWLEDGE BASE

Das Europa der vergangenen Jahrzehnte wurde stark vom Primat der Wirtschaft und dem Vertrauen in die Heilungskraft der Märkte geprägt. Die Euro-Krise hat dies erschüttert. Seither wird gestritten, wie die Währungsunion vor neuen Paniken besser geschützt werden kann – und wie sich das Auseinanderdriften von Ländern besser verhindern lässt.

ÜBERSICHT ARTIKEL