NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats Juli 2023
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
3. JULI 2023LESEDAUER
4 MINSichere und gerechte Grenzen für das Erdsystem
Johan Rockström, Joyeeta Gupta, Dahe Qin et al.
Die Interdependenz von Stabilität und Widerstandsfähigkeit der Erde und menschlichem Wohlergehen wird oft übersehen, was dazu führt, dass sie getrennt voneinander behandelt werden. Um diese Lücke zu schließen, haben ForscherInnen unter der Leitung des führenden Umweltwissenschaftlers Johan Rockström neue Modellierungs- und Literaturanalysen durchgeführt, um Erdsystemgrenzen (ESBs) zu quantifizieren, die sowohl Sicherheit als auch Gerechtigkeit auf globaler und nationaler Ebene gewährleisten. Die Ergebnisse zeigen, dass Gerechtigkeitsaspekte ESBs stärker einschränken als Sicherheitsaspekte, insbesondere in Bezug auf das Klima und die atmosphärische Aerosolbelastung. Alarmierend ist, dass sieben von acht global quantifizierten sicheren und gerechten ESBs und mindestens zwei regionale ESBs bereits auf mehr als der Hälfte der globalen Landfläche überschritten werden. Die Studie liefert eine neue quantitative Grundlage für den Schutz globaler Gemeinschaftsgüter für heutige und zukünftige Generationen.
Die Dynamik der Vermögensverteilung aufdecken
Thomas Blanchet
In vielen Ländern der Welt hat die Ungleichheit der Vermögensverteilung zugenommen. Die genauen Ursachen der Ungleichheit und ihr relatives Gewicht sind jedoch nicht immer klar. Mit Hilfe eines neuartigen stochastischen Modells hat der Ökonom Thomas Blanchet eine Methode entwickelt, mit der sich die verschiedenen Einflüsse auf die Vermögensentwicklung – darunter Mobilität, Ersparnisse, Arbeitseinkommen, Renditen, Demografie und Vererbung – effektiv voneinander trennen lassen. Blanchet wendet diesen Ansatz an, um die Vermögensverteilung in den Vereinigten Staaten seit 1962 anhand historischer Daten zu Einkommen, Vermögen und Demografie zu schätzen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Hauptursachen für den Anstieg des Vermögensanteils der obersten 1% seit den 1980er Jahren – in absteigender Reihenfolge ihrer Bedeutung – höhere Ersparnisse an der Spitze, höhere Vermögenseinkommen (vor allem durch Kapitalgewinne) und eine zunehmende Ungleichheit der Arbeitseinkommen sind. Darüber ermöglicht das Modell, die Auswirkungen der Besteuerung von Vermögen zu untersuchen. In der Benchmark-Kalibrierung ist der optimale Spitzensteuersatz, der das Steueraufkommen maximiert, relativ hoch (ca. 12%), aber die tatsächlichen Steuereinnahmen sind deutlich niedriger als in einem statischen Szenario.
Einwanderung klug, einfach und fair gestalten: Ein Vorschlag mit doppelter Dividende
Manuela Barisic, Simon Jäger, Alan Manning et al.
Angesichts des demografischen Wandels und des daraus resultierenden prognostizierten Fachkräfte- und Arbeitskräftemangels steht der deutsche Arbeitsmarkt vor großen Herausforderungen. Daher wächst parteiübergreifend der Konsens, dass neben einer Erhöhung der inländischen Erwerbsbeteiligung auch eine verstärkte Zuwanderung, insbesondere aus Drittstaaten, notwendig ist. In einem aktuellen Beitrag plädieren Manuela Barisic et al. für eine deutliche Lockerung der Zuwanderungsbedingungen in Deutschland. Sie schlagen vor, die Erteilung einer befristeten Arbeitserlaubnis für Drittstaatsangehörige an ein bestehendes Ausbildungs- oder Arbeitsplatzangebot in tarifgebundenen Betrieben zu koppeln. So könnten Zuwanderungspotenziale und Chancen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand besser genutzt werden. Zudem fördert die Stärkung der Tarifbindung ein ausgewogenes soziales Umfeld – ein Ziel, das über Parteigrenzen hinweg breite politische Unterstützung findet. Der Vorschlag adressiert damit gleichzeitig zwei zentrale arbeitsmarktpolitische Herausforderungen: die Erleichterung der dringend benötigten Zuwanderung von Arbeitskräften aus Drittstaaten und die Stärkung der seit Jahren sinkenden Tarifbindung.
Energie, Inflation und Marktmacht: Exzessiver Pass-Through in Frankreich
Axelle Arquié, Malte Thie
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zu einem großflächigen und erheblichen Anstieg des Preisniveaus geführt. Seitdem ist eine hitzige Debatte darüber entbrannt, ob die Inflation durch exzessive Kostenweitergabe der Unternehmen zusätzlich beschleunigt wurde – ob sie also gewinngetrieben war. In einem neuen Working Paper untersuchen Axelle Arquié und Malte Thie den Zusammenhang zwischen Marktmacht und Erzeugerpreisen im verarbeitenden Gewerbe Frankreichs während einer Periode erheblicher Energiepreiserhöhungen von Januar 2020 bis Februar 2023. Die Forscher sehen Belege dafür, dass Unternehmen in weniger wettbewerbsfähigen Sektoren Energiepreiserhöhungen ausnutzen können, um ihre Preise über die tatsächlichen Kostenänderungen hinaus zu erhöhen. In den am wenigsten wettbewerbsfähigen Sektoren geben die Unternehmen bis zu 110% des Energieschocks weiter, was eines zusätzlichen Kostenaufschlages von 10 Prozentpunkten entspricht. Darüber hinaus ist der Zusammenhang zwischen Preisanstieg und Weitergabe stärker, wenn die Streuung der Preisanstiege gering ist, was darauf hindeutet, dass die Unternehmen die Preise in der Erwartung erhöhen, dass ihre Konkurrenten dies ebenfalls tun.
Das Auto, der Kapitalismus und die ökologische Krise: Verstehen der systemischen Barrieren für eine Nachhaltigkeitstransformation in der deutschen Automobilindustrie
Katharina Keil & Julia K. Steinberger
Angesichts der Klima- und Umweltkrise ist es von entscheidender Bedeutung, den Autoverkehr zu reduzieren, auf alternative Energiequellen umzusteigen und gleichzeitig die Größe, das Gewicht und den Energieverbrauch der Fahrzeuge zu verringern. Dies stellt eine große Herausforderung für die globale Automobilindustrie dar, deren traditionelles Geschäftsmodell auf dem Verkauf von mehr und größeren Autos basiert. Vor diesem Hintergrund untersuchen Katharina Keil und Julia Steinberger die sozial-ökologischen Grenzen des industriellen Wandels in Deutschland. Auf der Grundlage einer narrativen Literaturanalyse aus der Perspektive der Marxschen Politischen Ökonomie analysieren sie die interdependenten Barrieren innerhalb des Systems, die das Erreichen sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit auf sektoraler Ebene behindern. Die Autorinnen stellen fest, dass die Elektrifizierung des Antriebsstrangs durch technologischen Fortschritt beeinflusst wird, der die Ausbeutung von Metallen und Seltenen Erden intensiviert, was zu erheblichen sozialen und ökologischen Nachteilen führt. Daraus ergibt sich ein Dilemma für die Übergangsstrategien des Sektors.