INNOVATION LAB

Sollten wir alle weniger arbeiten?

In den meisten Volkswirtschaften arbeiten die Menschen heute genauso viel wie vor Jahrzehnten, obwohl die Produktivität gestiegen ist. Warum ist das so? Wir haben führende Forscher eingeladen, die Antworten bei unserem New Paradigm Workshop zu diskutieren.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

11. OKTOBER 2022

LESEDAUER

3 MIN

Als eine der Reaktionen auf die zunehmende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen haben Organisationen und Regierungen auf der ganzen Welt begonnen, mit Arbeitszeitverkürzungen zu experimentieren und Untersuchungen über deren Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit und die Produktivität in Auftrag zu geben. Auf unserem XI New Paradigm Workshop haben wir führende Experten eingeladen, um zu erörtern, warum Keynes‘ berühmte Vorhersage, dass wir bis 2030 im Durchschnitt nur noch 15 Stunden arbeiten werden, nicht eingetreten ist. Welche Auswirkungen hat die Arbeitsüberlastung auf die öffentliche Gesundheit? Und was können wir aus den Experimenten mit der Vier-Tage-Woche lernen, die zum Beispiel in Spanien durchgeführt werden?

Die Podiumsdiskussion wurde von Till van Treeck (Universität Duisburg-Essen) eröffnet, der die Einkommensungleichheit als einen der wichtigsten Faktoren dafür nannte, dass Keynes mit seiner Vorhersage falsch lag. Untersuchungen zeigen, dass der Trend zu kürzeren Arbeitszeiten in den 1980er Jahren quasi zum Stillstand gekommen ist. Heute arbeitet der durchschnittliche Arbeitnehmer in einem Land mit hoher Ungleichheit wie den USA etwa 400 Stunden mehr als ein Arbeitnehmer in Ländern mit geringerer Ungleichheit. Aber warum ist das so? Van Treeck betonte insbesondere die Rolle von Status-Wettrennen als eine der Erklärungen dafür, warum Menschen immer noch lange arbeiten.

"In einer Welt, in der die Einkommensungleichheit zunimmt, können Menschen, die weniger wohlhabend sind, oft mit dem Konsum nur Schritt zu halten, wenn sie mehr arbeiten und Freizeit opfern."
Till van Treeck

Um kürzere Arbeitszeiten zu realisieren, so van Treeck, seien daher die öffentliche Bereitstellung universeller Güter und Dienstleistungen sowie stärkere Tarifverträge erforderlich.

David Spencer von der Universität Leeds bestätigte, dass die kapitalistischen Gesellschaften eine Normalisierung der Arbeitszeit erlebt haben, die weit über die von Keynes vorhergesagten 15 Stunden hinausgeht, und dass sich daran in den letzten 30 bis 40 Jahren wenig geändert habe. In Verbindung mit der hohen Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit in vielen Ländern führe dies zu einer gravierenden Fehlverteilung der Arbeitszeit und letztlich zu einem Verlust an Wohlstand.

Als Grund nannte er die ungleiche Machtverteilung innerhalb der Gesellschaft. Unabhängig davon, wie hoch die Produktivitätssteigerungen seien, kämen sie den Arbeitnehmern nicht zugute. In Verbindung mit dem sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrad, der Aushöhlung von Tarifverträgen und höheren Konsumnormen konnte eine Arbeitszeitverkürzung deshalb nicht durchgesetzt werden. Während sich die Debatte um Arbeitszeitverkürzungen in jüngster Zeit an Momentum gewonnen habe, so sei laut Spencer der Übergang von vereinzelten Experimenten zu einem umfassenderen Systemwandel eine ernst zu nehmende Hürde.

"Wir haben gesehen, dass eine selbst gewählte Gruppe von Unternehmen an der Studie teilnimmt. Wichtiger ist aber die Frage, wie man den Rest überzeugen kann. Ohne, dass der Staat sich die Vier-Tage-Woche als ausdrückliches Ziel auf die Fahnen schreibt, wird das eine Herausforderung."
David Spencer

Er betonte auch, wie wichtig es sei, die Arbeitszeitverkürzung als Teil einer breiter angelegten politischen Agenda zu betrachten, zu der zum Beispiel auch Mindestlöhne gehörten. Neben der Arbeitszeit seien insbesondere schlechte Arbeitsbedingungen, die hohe Arbeitsbelastung, Arbeitsintensität und niedrige Bezahlung ein ernsthaftes Problem.

"Die Arbeitszeitverkürzung kann kein Patentrezept sein."
David Spencer

Joan Sanchis (Universität Valencia) berichtete über Erkenntnisse aus den Versuchen zur Arbeitszeitverkürzung, die aktuell in Valencia und Spanien stattfinden. Die Trials, so Sanchis, sollten dazu beitragen, das niedrige Produktivitätsniveau in Spanien, den arbeitsbedingten Stress sowie den energieintensiven Charakter eines Lebensstils mit hohem Zeitdruck anzugehen. Als Learnings identifizierte er die Wichtigkeit, sich auf ein gemeinsames Ziel zu konzentrieren, mit dem sich verschiedene Akteure identifizieren können (im Falle Spaniens die Steigerung der Produktivität). Zudem sei es wichtig, dass politische Entscheidungsträger und Unternehmen eine führende Rolle einnähmen und so die Initiative vorantrieben. Außerdem sei wichtig, Möglichkeiten für eine aktive Beteiligung der Zivilgesellschaft an dem Vorhaben zu schaffen. Dazu zählten designierte Räume für Debatten.

Aber warum überhaupt all die Versuche und Analysen zu den Effekten kürzerer Arbeitszeit? Natürlich würden wenige Menschen den Mehrwert von mehr Freizeit bestreiten. Aber gibt es neben den wirtschaftlichen Argumenten noch weitere, die den jüngsten Bemühungen Legitimation verleihen?

Als finale Panelistin berichtete Johanna Nold von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin über Erkenntnisse aus ihren Feldstudien, die belegen, dass lange Arbeitszeiten und eine hohe Arbeitsintensität unter anderem zu Schlafstörungen, Depressionen, einem erhöhten Risiko für Herzkrankheiten sowie einer höheren Zahl von Arbeitsunfällen führen. Außerdem berichten Arbeitnehmer über eine allgemein geringere Zufriedenheit mit ihrer Arbeit und ihrem Leben.

Umfragen unter Arbeitnehmern zeigten auch eine deutliche Präferenz für kürzere Arbeitszeiten, die sich in den letzten Jahren noch verstärkt hätte. Heute würden 50 Prozent der Arbeitnehmer gerne vier Tage oder sogar weniger arbeiten. Ähnlich wie David Spencer machte sie jedoch auch deutlich, dass eine Arbeitszeitverkürzung an sich nicht ausreiche, wenn sie nicht in ein holistisches Maßnahmenpaket eingebettet werde.

"Eine Arbeitszeitverkürzung ist gut für das Wohlbefinden, aber wir müssen sie nachhaltig gestalten, damit die gleiche Arbeitsintensität nicht einfach auf weniger Arbeitstage verteilt wird."
Johanna Nold

Die ganze Diskussion im Re-live

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