NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats Mai
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
22. MAI 2023LESEDAUER
7 MINOrtsgebundene Politikmaßnahmen und Ungleichheit innerhalb von Regionen
Valentin Lang, Nils Redeker, Daniel Bischof
Angesichts der zunehmenden Auswirkungen der Globalisierung, des technologischen Fortschritts und von Agglomerationsvorteilen an bestimmten Standorten stellen politische Entscheidungsträger zunehmend Mittel in Rahmen von regionalpolitischen Maßnahmen bereit, um die wirtschaftliche Notlagen und der politischen Unzufriedenheit in abgehängten Regionen abzumildern. Aktuelle industriepolitische Maßnahmen, wie der IRA in den USA, enthalten ebenfalls eindeutig regionalpolitische Elemente. Bislang lag der Schwerpunkt der Forschung zu derartigen Maßnahmen vor allem auf ihren durchschnittlichen Auswirkungen. Erkenntnisse über die Verteilungswirkung von ortsbezogenen Mittel innerhalb der Regionen fehlt. Eine neue Studie von Valentin Lang, Nils Redeker und Daniel Bischof versucht nun zum ersten Mal die Verteilungseffekte ortsbezogener Maßnahmen zu untersuchen. Auf der Grundlage von Haushaltsdaten von 2,4 Millionen Befragten in der Europäischen Union zeigen die Autoren, dass es innerhalb der europäischen Regionen eine erhebliche Einkommensungleichheit gibt. Diese Ungleichheit hat seit den 1990er Jahren zugenommen und spielt bei der Gesamtungleichheit eine größere Rolle als interregionale Ungleichheit. Die Studie zeigt außerdem, dass die EU ‚Cohesion Policy‘ (die weltweit größte regionalpolitische Reform) in den geförderten Regionen nur begrenzte Auswirkungen auf Haushalte mit niedrigem Einkommen hatte. Dagegen brachte sie für wohlhabendere Haushalte eindeutige Einkommensverbesserungen. So hat die ortsgebundene Hilfe die Ungleichheit innerhalb der Region sogar verschärft, indem sie in erster Linie die Arbeitseinkommen der Hochqualifizierten erhöht hat.
Schätzung der ideologischen Verzerrung von Ansichten unter Wirtschaftswissenschaftlern
Mohsen Javdani & Ha-Joon Chang
Der Einfluss von Ideologie auf die Wirtschaftswissenschaft ist Gegenstand ständiger Debatten. In der heutigen polarisierten politischen und sozialen Landschaft spielen ideologische Argumente eine dominante Rolle und prägen die Debatten zu Schlüsselthemen wie Klimakrise, zunehmende Ungleichheit, die Oligarchie der Unternehmen oder die Zukunft der Arbeit. Gleichzeitig gibt es nur wenige Studien, die umfassende empirische Belege für die Frage liefern, inwieweit die Wirtschaftsdebatte und damit die politische Entscheidungsfindung von Ideologie geprägt sind. Eine aktuelle Studie von Mohsen Javdani und Ha-Joon Chang versucht, diese Lücke zu schließen. Mit einem randomisierten, kontrollierten Online-Experiment, an dem 2.425 WirtschaftswissenschaftlerInnen aus 19 verschiedenen Ländern teilnahmen, versuchten die Forscher, den Einfluss ideologischer Voreingenommenheit unter WirtschaftswissenschaftlerInnern zu untersuchen. Während des Experiments wurden den Teilnehmenden Aussagen prominenter WirtschaftswissenschaftlerInnen zu verschiedenen Themen vorgelegt. Die Quellenzuordnung für jede Aussage wurde ohne Wissen der Teilnehmenden randomisiert. Jeder Teilnehmende erhielt für jede Aussage entweder eine Mainstream-Quelle, eine ideologisch anders geartete weniger/nicht-Mainstream-Quelle oder keine Quelle. Die Forscher bewerteten dann die von den Teilnehmenden angegebene Zustimmung zu den Aussagen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Änderung der Quellenzuordnung von Mainstream zu weniger/nicht-Mainstream oder deren gänzliche Streichung die Zustimmung der ÖkonomInnen zu den Aussagen deutlich verringert. Insbesondere gaben 82 % der Teilnehmenden an, dass sie glauben, dass man sich bei der Bewertung einer Aussage ausschließlich auf den Inhalt konzentrieren sollte. Wie die Studie jedoch zeigt, scheinen ideologische Voreingenommenheit und Autoritätshörigkeit unter WirtschaftswissenschaftlerInnen eine größere Rolle zu spielen, als gemeinhin angenommen wird.
Immigration und Umverteilung
Alberto Alesina, Armando Miano, Stefanie Stantcheva
Bei den jüngsten Wahlen in Europa und den USA sowie in der Debatte um den Brexit ist Einwanderungsdebatte eines der zentralen Diskussionsthemen gewesen. Die Debatte hat in vielen Ländern, die sich mit der Gestaltung ihrer Einwanderungspolitik und ihrer Wohlfahrtssysteme auseinandersetzen, verstärkte soziale und politische Konflikte ausgelöst. Doch welcher Zusammenhang besteht zwischen der Wahrnehmung, die Nicht-Eingewanderte von ImmigrantInnen haben, und ihrer Unterstützung für Umverteilungsmaßnahmen? Eine aktuelle Studie von Alberto Alesina, Armando Miano und Stefanie Stantcheva versucht, diese Fragen zu beantworten. In ihrem Beitrag messen die ForscherInnen die Wahrnehmungen und Einstellungen von Befragten ohne Migrationshintergrund gegenüber der Einwanderung und untersuchen insbesondere deren Zusammenhang mit der Unterstützung von Umverteilungsmaßnahmen. Die Umfragen wurden in Frankreich, Deutschland, Italien, Schweden, Großbritannien und den USA durchgeführt. Die Länder wurden aufgrund ihrer unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatsmodelle und divergierenden Positionen zur Umverteilung ausgewählt. Gleichzeitig stellt die Einwanderung ein zentrales Thema in den politischen Diskussionen dar.
Die Ergebnisse der Studie deuten auf erhebliche Fehleinschätzungen der Befragten hinsichtlich der Anzahl und der Merkmale von Einwandernden hin. In allen untersuchten Ländern überschätzen die Befragten durchweg die Gesamtbevölkerung der Zugewanderten und nehmen sie als kulturell und religiös weiter entfernt von sich selbst wahr. Außerdem halten sie Zugewanderte für wirtschaftlich schwächer, weniger gebildet, häufiger arbeitslos und abhängiger von staatlichen Transferleistungen, als sie es tatsächlich sind. Darüber hinaus führt die bloße Aufforderung an die Befragten, über Einwanderung nachzudenken, bevor sie über Umverteilung befragt werden, zu einer geringeren Unterstützung für Umverteilung. Die Bereitstellung von akkuraten Informationen über den genauen Anteil und die Herkunft der Zugewanderten kann daran nichts ändern.
Regulierung der arbeitsbedingten Risiken von KI: Konsequenzen für die deutsche Regierung und die Gewerkschaften
Anke Hassel, Didem Özkiziltan
Künstliche Intelligenz entwickelt sich in immer schnellerem Tempo. Eine neue Studie von Anke Hassel und Didem Özkiziltan untersucht die potenziellen Risiken, die mit künstlicher Intelligenz im Zusammenhang mit der Arbeitswelt verbunden sind. Die Forscherinnen unterscheiden dabei zwischen direkten und indirekten Risiken. Zu den direkten Risiken zählen Diskriminierung, Überwachung und Informationsungleichgewichte, die durch KI am Arbeitsplatz entstehen. Indirekte Risiken hingegen betreffen die zunehmende Automatisierung der Arbeit und die wachsende Spaltung der Arbeitsplätze durch den Einsatz von Technologie. Hassel und Özkiziltan argumentieren, dass politische Lösungen auf die jeweilige Art des Risikos zugeschnitten sein sollten. Für direkte Risiken können europäische und nationale Vorschriften zur Bekämpfung von Diskriminierung, Überwachung und Informationsungleichgewichten umgesetzt werden. Im Hinblick auf indirekte Risiken besteht der erste Schritt darin, sektorspezifische Veränderungen zu beobachten und zu verstehen, um entsprechendes Fachwissen und Kompetenzen dazu aufzubauen. Dieser Ansatz zur Bewältigung von KI-bedingten Risiken am Arbeitsplatz zielt darauf ab, die Aussichten auf die Förderung von menschenwürdiger Arbeit, gerechter Entlohnung und angemessenem Sozialschutz für alle Menschen zu verbessern.
Arbeitsmarktstabilität in einer Wirtschaft ohne Wachstum
Valeria Jimenez
Um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, ist die Ankurbelung der Nachfrage normalerweise das Mittel der Wahl. Die Erreichung der Klimatziele des Pariser Abkommens kann jedoch unter Umständen einen Stopp des Wirtschaftswachstums notwendig machen. In diesem Zusammenhang werden erhebliche Eingriffe in den Arbeitsmarkt notwendig, um einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Ein neues Papier von Valeria Jimenez modelliert ein nachfrageorientiertes Wachstumsszenario nach Kalecki, um die dynamische Stabilität des Arbeitsmarktes in einer Wirtschaft ohne Wachstum zu analysieren. Das Modell berücksichtigt kurzfristige Anpassungen der Nettoinvestitionen aufgrund von Abweichungen von der angestrebten Kapazitätsauslastung, während es sich langfristig an den Umsatzwachstumserwartungen der Unternehmen orientiert, die von der Wachstumsrate der autonomen Staatsausgaben bestimmt werden. Infolgedessen wird die Wachstumsrate des Systems langfristig durch die autonome Wachstumsrate der Staatsausgaben (die auf Null gesetzt wird) und die Konvergenz der Kapazitätsauslastung in Richtung der normalen Rate bestimmt. In der Studie werden die Bedingungen untersucht, unter denen diese langfristige Konvergenz zu einer stabilen Beschäftigungsquote führt. Im Basismodell werden Rückkopplungseffekte zwischen Produktivität, Verteilung und Beschäftigung berücksichtigt. Es wird jedoch festgestellt, dass die notwendigen langfristigen Bedingungen für eine stabile Beschäftigungsquote nicht erfüllt sind. Dies weist auf die Notwendigkeit politischer Interventionen hin, um die Stabilität des Arbeitsmarktes in einer Wirtschaft ohne Wachstum zu gewährleisten. Die Studie untersucht daher in einem zweiten Teil, ob die Regierung durch Arbeitszeitverkürzungen Arbeitsmarktstabilität erreichen kann. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass in dem Modell eine stabile Beschäftigungsquote erreicht werden kann, wenn die negativen Auswirkungen des Arbeitsproduktivitätswachstums auf die Beschäftigungsquote durch eine Reduzierung der Arbeitszeit ausgeglichen werden.