DER STAAT | NEW ECONOMY SHORT CUT

Müssen wir den Staat neu denken?

16.09.2021

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Angesichts der Corona-Pandemie hat im letzten Jahr die Kritik am Krisenmanagement des Staates wieder zugenommen. Das ist nicht verwunderlich, denn gerade in Krisen wird die staatliche Leistungs- und Reaktionsfähigkeit auf den Prüfstand gestellt und das Augenmerk auf die Schwachstellen gelenkt. Stimmen, die nach Reformen rufen, gibt es daher viele. Wie diese aussehen könnten – und ob sich so die großen Herausforderungen unserer Zeit besser lösen ließen, darüber herrscht jedoch teilweise Uneinigkeit.

Die CDU fordert in ihrem Wahlprogramm eine Modernisierungsoffensive für den Staat – Verwaltungsmodernisierung, Digitalisierung und eine Reform des Staatswesens inklusive. Aber wie sinnvoll sind diese Reformen – und wie können sie umgesetzt werden? Werden so die wichtigen Probleme, mangelnde Investitionen ins Klima zum Beispiel, oder die in der Pandemie ans Licht geholten Schwachstellen adressiert?

Darüber haben wir mit Thomas Heilmann, MdB von der CDU/CSU Fraktion und Mitautor des Buches ‚Neustaat‘, und Henning Vöpel, Professor für Volkswirtschaftslehre an der HSBA Hamburg School of Business Administration und bis vor kurzem Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), diskutiert.

Der Beitrag ist Teil unserer New Economy Short Cut Reihe zur Bundestagswahl, bei der wir prominente Kandidaten und Kandidatinnen vor der Bundestagswahl dazu eingeladen haben, die Versprechen ihrer Partei im Hinblick auf die großen ökonomischen Fragen unserer Zeit mit uns zu diskutieren. Weitere Diskutanten waren Norbert Walter-Borjans (SPD), Christian Dürr (FDP), Anja Hajduk (Bündnis 90/ Die Grünen) und Caren Lay (Die Linke).

Beide Teilnehmer identifizierten die schleppende Digitalisierung der Verwaltung sowie den unzureichenden Austausch zwischen den Behörden als zentrale Hindernisse eines gut funktionierenden Staates. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass der deutsche Staat agiler und flexibler organisiert werden muss, um in künftigen Krisen schneller handeln zu können.

Henning Vöpel beschrieb die Datenlage während der Corona-Pandemie als katastrophal und stellte fest, dass eine bessere Verfügbarkeit von Daten für bessere Entscheidungsgrundlagen sorgen könne. Thomas Heilmann sprach sich für bundeseinheitliche Standards für die Datenverarbeitung und für einen besseren Informationsaustausch zwischen Behörden aus. Am Beispiel der Software SORMAS zur Epidemie-Bekämpfung sei deutlich geworden, dass es in Deutschland klarere Entscheidungswege in diesem Bereich brauche. Nach seiner Ansicht stecken deutsche Behörden durch ihr striktes Festhalten an Einzelzuständigkeiten in einer sogenannten Komplexitätsfalle. Auch Henning Vöpel betonte, dass eine stärkere ressortübergreifende Kooperation zukünftig immer wichtiger werde, um komplexer werdende globale Probleme zu bewältigen. Beide Diskutanten waren sich ebenfalls in dem Punkt einig, dass die Modernisierung der Verwaltung eine gezieltere Personalauswahl im öffentlichen Dienst voraussetze.

Hinsichtlich der Frage, inwieweit in Zukunft eine größere Rolle des Staates aufgrund von Marktversagen zu erwarten sei, gingen die Einschätzungen allerdings auseinander.

Für Thomas Heilmann könnten natürliche Monopole wie digitale Plattformen durchaus auf EU-Ebene wirksam reguliert werden. Dies scheitere allerdings oft an einem fehlenden politischen Willen. Seiner Einschätzung nach kann eine Reformierung des teilweise veralteten, nicht auf die heutigen Zeit ausgelegten, Verwaltungsrechts zur mehr staatlicher Handlungsfähigkeit führen. Darüber hinaus warb er für das Ziel einer datenbasierten Politik.

Demgegenüber ist für Henning Vöpel die Zeit reif für eine umfassendere Rolle des Staates. Seiner Auffassung nach steigen die Fälle von Marktversagen, insbesondere von externen Effekten, durch große globale Verschiebungen (z.B. in der Geopolitik und Technologie bis hin zur Klimaerwärmung). Als Optimum beschrieb er eine komplementäre Beziehung zwischen Staat und Markt: einerseits solle der Staat handlungsfähig gemacht werden, zum anderen sei ein „echtes Unternehmertum“ nötig, das (im Sinne von Schumpeter) neue Lösungen entwickle.

In ihrem Wahlprogramm fordert die CDU/ CSU einen Neustart für den Staat. Die Diagnose: „Staat und Verwaltung sind allzu oft nicht mehr auf der Höhe der Zeit: zu analog, zu bürokratisch, zu langsam, zu wenig vernetzt und zu misstrauisch. Deutschland lähmt sich selbst und droht, den Anschluss zu verlieren“. Der Staat solle sich deshalb nach der Pandemie zurückziehen und den Bürgerinnen und Bürgern, sowie den Unternehmen mehr Freiraum lassen. Ein verlässlicher und moderner Staat müsse nicht jedes Problem bis ins Detail regeln. Damit Deutschland die digitalen und technologischen Herausforderungen bewältigen könne, soll ein eigenes Bundesministerium für Digitalisierung geschaffen werden. Zudem sollen Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden, Gesetze einem Notwendigkeitscheck unterzogen werden.

Die Initiative für den sogenannten „Neustaat“, wurde vor gut einem Jahr von den Fraktionsvorstandsmitgliedern Nadine Schön und Thomas Heilmann (beide CDU) mit ihrem gleichnamigen Buch angestoßen.

Und die anderen Parteien? Auch die wollen Reformen. Bei den Grünen fordert man einen modernen, engagierten Staat, der Krisen effektiv managed, es den Bürgerinnen und Bürgern durch digitale Teilhabe vereinfacht, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen und transparenter verwaltet. Die SPD strebt danach, dass Deutschland bis 2030 über eine digitale Infrastruktur auf Weltniveau verfügt. Gleichzeitig soll der Staat „strategischen Investor, eine Ordnungs- und Gestaltungskraft zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit sein“. Anders bei der FDP, hier möchte man vor allem einen Staat, der schlank ist, staatliche Beteiligungen sollen stärker auf ihre Notwendigkeit überprüft und perspektivisch abgebaut werden. Bei der Linken steht vor allem der Staat als Sozialstaat im Vordergrund: Eine Gesellschaft, die ermöglicht, sei nur mit ausreichender und krisenfester sozialer Absicherung machbar.

Große Ziele also – nur in einigen Fällen konkrete Vorschläge. Und die Ökonomen? Was sagen die zur Rolle und zum Verhältnis von Staat und Markt in Krisenzeiten – und darüber hinaus? 

Durch die Corona-Krise haben sich zuletzt vermehrt Ökonomen mit den Herausforderungen der Wirtschaftspolitik, und dem Verhältnis von Markt und Staat befasst. Viele Blickwinkel spielen in der Debatte eine Rolle – die Entwicklung des Staatsverständnisses zum Beispiel, die Staatschuldenquote – oder wie viel und mit welchen Zielen der Staat investieren sollte. Und natürlich die Frage, welche institutionelle Gestaltung zwischen Markt und Staat die richtige für eine erfolgreiche gesamtwirtschaftliche Tätigkeit ist.

Der Staat hat in der Coronakrise wichtige Aufgaben übernommen. Dies ist uneingeschränkter Konsens. Aber ein starker Staat muss auch für zukünftige Aufgaben ertüchtigt werden. Einige Ökonomen argumentieren, dass dazu insbesondere die staatliche Förderung von Innovationen (in Klimapolitik, Bildung, Digitalisierung etc.) unabdingbar ist, der Staat als Unternehmer agieren soll. Andere wiederum widersprechen dieser Auslegung, sagen, der Staat sei kein guter Investor, solle sich lieber aus dem Markt zurückziehen.

Insbesondere die Klimapolitik erkennen viele Ökonomen mittlerweile als eine der wesentlichen staatlichen Aufgaben nach der Coronakrise an. Tom Krebs sieht den modernen Staat auf „Zukunftsmission“, wenn dieser gezielt die Nachfrage nach ökologisch nachhaltigen Zukunftsprodukten stärkt, und Michael Hüther vom IW Köln fordert eine große Staatsreform, um den Strukturwandel zur klimaneutralen Industrie zur ermöglichen. Wie vor dem hohen zukünftigen Finanzierungsbedarf mit den Staatsschulden umzugehen ist und ob die Schuldenbremse noch gelten soll, darüber haben wir bereits in anderen Beiträgen unseres Econ Wahlchecks gesprochen.

Minimalkonsens herrscht dann, wenn es darum geht, dass ein starker und moderner Staat nur durch tiefgreifende Reformen ermöglicht werden kann, insbesondere im Themenfeld der Digitalisierung. Der Sachverständigenrat für Wirtschaft stellt in seinem Jahresgutachten beispielsweise fest, dass Deutschland im Bereich digitale Verwaltung im EU-Vergleich auf Platz 21 von 28 Ländern steht.