NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats März
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
1. MÄRZ 2023LESEDAUER
5 MINWarum ist es so schwierig, Reiche zu besteuern? Evidenz aus der deutschen Politik
Florian Fastenrath, Paul Marx, Achim Truger & Helena Vitt
Die Ungleichheit in Deutschland wächst seit Jahrzehnten und die Steuerprogression geht zurück. Eine neue Studie von Florian Fastenrath et al. analysiert, warum es – trotz dieses Trends – keine breite öffentliche Unterstützung dafür gibt, Reiche stärker zu besteuern. Die Literatur bietet mehrere Erklärungen für dieses Rätsel: mächtige organisierte Geschäftsinteressen, die die öffentliche Meinung und das Handeln von Politikern beeinflussen, globaler Steuerwettbewerb sowie widersprüchliche Ansichten der öffentlichen Mehrheit, die das Steuersystem und seine Auswirkungen auf das eigene Einkommen oft nicht ausreichend versteht. Die AutorInnen der Studie argumentieren, dass diese Gründe zwar plausibel sind, aber nicht als exogene Faktoren des politischen Prozesses betrachtet werden sollten, sondern durch das Denken und Handeln von PolitikerInnen wirken. Um besser zu verstehen, was politische Akteure über die Debatte um Steuerprogression denken, haben Fastenrath et al. 25 Leitfadeninterviews mit deutschen politischen AkteurInnen, meist linken Mitgliedern des Finanzausschusses des Bundestags, geführt. Diese Gruppe hat eine politische Motivation, Reichensteuern zu erhöhen, ist der politischen Umsetzung in den letzten Jahren jedoch weitgehend schuldig geblieben.
Zu den größten Hindernissen, die von der Mehrheit der Befragten genannt wurden, zählen organisierte Geschäftsinteressen, öffentliche Meinungsbildung und Medienframing, Prozesse innerhalb von Parteien, der deutsche Föderalismus und – in viel geringerem Maße – der internationale Steuerwettbewerb. Darüber hinaus weisen die Interviews auf eine bisher nicht erkannte organisatorische Barriere hin, die die AutorInnen als „Teufelskreis der Kompetenz“ bezeichnen: Linke PolitikerInnen geben zu, mit Steuerfragen überfordert zu sein, was sie gegenüber findigen Anti-Steuer-Akteuren benachteiligt. Sie beschreiben, wie parteiinterne Diskurse diese Kompetenzmuster prägen, indem sie Motivationen, Machbarkeitswahrnehmungen und Wahlstrategien beeinflussen.
Das Sicherheitsnetz: Zentralbankbilanzen und Finanzkrisen, 1587-2020
Niall Ferguson, Martin Kornejew, Paul Schmelzing, Moritz Schularick
Zentralbankbilanzen haben bei der Reaktion auf die finanziellen und makroökonomischen Umwälzungen im letzten Jahrzehnt eine herausragende Rolle gespielt. In dem Bemühen, Haushalte und Finanzmärkte vor schweren wirtschaftlichen Belastungen zu schützen, war die Reaktion auf die jüngsten Krisen, wie die globale Finanzkrise von 2008-9 und die neuere Reaktion auf die COVID-19-Pandemie, mit groß angelegten Ankäufen von Vermögenswerten und der erheblichen Ausweitung der Liquiditätsmengen für den Finanzsektor. Nur wenig ist dahingegend über den Einsatz von Zentralbank Asset Sheets als politisches Instrument vor 2008 bekannt.
Eine kürzlich veröffentlichte und viel diskutierte Studie von Niall Ferguson, Martin Kornejew, Paul Schmelzing und Moritz Schularick füllt diese Lücke, indem sie die Entwicklung der Zentralbankbilanzen in den letzten 400 Jahren in 17 großen Volkswirtschaften analysiert und die Auswirkungen der Lender-of-Last-Resort-Operationen auf die Wirtschaft abschätzt. Während die gängige Meinung davon ausgeht, dass die Auslastung der Bilanzen durch die Zentralbanken vor den 1970er Jahren begrenzt war, dokumentieren die Autoren, dass Zentralbanken immer wieder ihre Macht einsetzten, um Liquidität zu schaffen, und Volkswirtschaften so vor Katastrophen zu schützen. Während sich die Größe der Zentralbankbilanzen im Verhältnis zur Wirtschafts- und Finanztätigkeit erheblich verändert hat, ist die Bereitstellung von Liquidität während finanzieller Turbulenzen im Laufe der Zeit zum wichtigsten Treiber von Bilanzoperationen geworden. Die Autoren untersuchen die historische Aufzeichnung solcher Lender-of-Last-Resort-Interventionen mit einer neuartigen Identifizierungsstrategie, die auf vorher festgelegten ideologischen Überzeugungen der amtierenden Zentralbankvorstände („Falken“ vs. „Tauben“) in Bezug auf die Unterstützung des Finanzsektors basiert.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Liquiditätshilfen in Finanzkrisen die Wirtschaft tatsächlich tendenziell erfolgreich stabilisiert haben: Krisen sind weniger schwerwiegend, Vermögenspreise erholen sich schneller und Deflation wird vermieden. Es gibt jedoch auch Hinweise darauf, dass die Bereitstellung von Zentralbankliquidität für die Finanzmärkte zu künftigen Episoden übermäßiger Risikobereitschaft durch Finanzintermediäre führt und sich dadurch die Wahrscheinlichkeit künftiger Boom-Bust-Episoden erhöht, was auf potenzielle Moral-Hazard-Effekte von Zentralbankinterventionen hinweist.
Änderungen der Arbeitszeiten steigern die Einkommensungleichheit
Mattis Beckmannshagen und Carsten Schröder
Laut Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) hat die Ungleichheit der Bruttomonatsverdienste in Deutschland zwischen 1993 und 2003 deutlich zugenommen und stagniert seit 2008 auf hohem Niveau. Ein aktueller Beitrag von Mattis Beckmannshagen und Carsten Schröder zeigt, dass entgegen landläufiger Meinung dieser Anstieg nicht überwiegend durch Zunahmen der Stundenlohnunterschiede, sondern durch die Entwicklung der Arbeitszeiten getrieben wird; Geringverdiener arbeiten deutlich weniger als früher. Dies gilt insbesondere für zwei Gruppen: Frauen und Beschäftigte im Dienstleistungssektor, deren Anteil an der Erwerbsbeteiligung in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Oft ist diese Arbeitszeitverkürzung nicht freiwillig. Hätten die Beschäftigten ihre gewünschte Stundenzahl arbeiten können, wäre der Anstieg der Ungleichheit moderater ausgefallen. Als Maßnahmen, um diesem Trend entgegenzuwirken, identifizieren die Autoren eine bessere Work-Life-Balance und mehr Möglichkeiten zur Arbeitszeitverlängerung im Niedriglohnbereich.
The Economic Resilience Index – Assessing the ability of EU economies to thrive in times of change
Jakob Hafele, Lukas Bertram, Nora Demitry, Laure-Alizée Le Lannou, Lydia Korinek, Jonathan Barth
Das gegenwärtige Zeitalter ist eines der Polykrise. Regierungen auf der ganzen Welt haben immense Mengen an Ressourcen kanalisiert, um die verheerenden Folgen der aktuellen Krisen abzumildern. Ohne geeignete Messmethoden und Warnindikatoren wird es jedoch schwierig bleiben, zukünftige Krisen vorherzusagen, zu verhindern und angemessen darauf zu reagieren. In einem kürzlich erschienenen Policy Paper haben Jakob Hafele et al. eine umfassende Kennzahl zur Messung wirtschaftlicher Resilienz entwickelt, die bestehende Dashboards, die derzeit von der Europäischen Kommission verwendet werden, ergänzen und stärken kann. Der Economic Resilience Index (ERI) speist seine Indikatoren aus einem theoretischen Rahmen für wirtschaftliche Resilienz und aggregiert sie zu einem einzigen, zusammengesetzten Indikator. Der ERI besteht aus 27 Indikatoren, die in sechs wichtige Resilienzdimensionen unterteilt sind: wirtschaftliche Unabhängigkeit, Bildung und Fähigkeiten, finanzielle Widerstandsfähigkeit , Governance, Produktionskapazität und sozialer Fortschritt und sozialer Zusammenhalt. In einem ersten Aufschlag haben die Autoren die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit von 25 europäischen Mitgliedstaaten geprüft, hauptsächlich in den Jahren 2020 und 2021. Die Ergebnisse zeigen, dass in der gesamten EU die skandinavischen Länder am besten und Länder mit niedrigerem Einkommen am schlechtesten abschneiden. Es besteht jedoch nur eine schwache Korrelation zwischen ERI und BIP. Tatsächlich rangieren große Länder mit hohem Einkommen wie Frankreich, Spanien und Italien in der mittleren oder niedrigsten Gruppe des ERI. Darüber hinaus ist der ERI auch schwach mit den CO2-Emissionen pro Kopf korreliert. Dies deutet darauf hin, dass der Aufbau wirtschaftlicher Resilienz nicht zu Lasten des Klimaschutzes und des Umweltschutzes gehen muss.