NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats Juli
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
5. JULI 2022LESEDAUER
8 MINTheorizing Varieties Of Capitalism: Economics And The Fallacy That “There Is No Alternative“ (TINA)
Thomas Palley
„Margaret Thatcher benutzte oft den Satz „There is no alternative“, um ihre Agenda zur Umgestaltung der britischen Wirtschaft nach neoliberalem Vorbild zu rechtfertigen. Dieser Satz ist als TINA bekannt geworden, und das dahinter stehende Denken ist in das öffentliche Verständnis eingesickert. Das Ergebnis ist eine stillschweigende Zwangsjacke, die die Wirtschaftspolitik seit vierzig Jahren einschränkt.“ Mit diesen Worten beginnt Thomas Palley seine Analyse in einem kürzlich veröffentlichten FFM-Politikpapier. Darin ergänzt der Autor einen Strang des wirtschaftswissenschaftlichen Diskurses, der unter dem Begriff „Varieties of Capitalism“ (VoC) zusammengefasst wird. Der VoC Diskurs stellt die TINA-Idee, wonach der Neoliberalismus alternativlos ist, in Frage. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Volkswirtschaften der Plastizität unterliegen und ihre Ausgestaltung somit Wahloptionen unterliegt. Die Herausforderung besteht nach Ansicht des Autors darin, dass die Wahlmöglichkeiten durch institutionelle Zwänge und politische Blockaden eingeschränkt sind, die durch frühere Entscheidungen und die TINA-Idee selbst begünstigt wurden. Ein eingeschränkter politischer Spielraum verringert die Heterogenität des Kapitalismus und schneidet Entwicklungswege ab. Politische Lock-Ins schaffen neue institutionelle Arrangements und Muster, deren Umkehrung sehr kostspielig ist. Selbst wenn Lock-Ins rückgängig gemacht werden, kehrt die Wirtschaft möglicherweise nicht zu ihrem ursprünglichen Zustand zurück.
Nach Palleys Analyse wird jedoch immer ein gewisser Spielraum für Entscheidungen vorhanden sein. Er unterscheidet zwischen Varianten („Arten“) und Varietäten („Unterarten“) des Kapitalismus. Beide werden durch gesellschaftliche Entscheidungen und den damit verbundenen politischen Spielraum geprägt. Varietäten des Kapitalismus sind häufiger anzutreffen und daher möglicherweise leichter und schneller umkehrbar. Palley analysiert, dass insbesondere in der Mesoökonomie – also den Institutionen, Verhaltensnormen, Regeln und Vorschriften sowie Politikmaßnahmen, die der Wirtschaft unterliegen – Raum für die Gestaltung neuer Politiken und gesellschaftlicher Entscheidungen besteht. Die Tatsache, dass die Ausgestaltung von Volkswirtschaften unweigerlich mit Wahlmöglichkeiten verbunden ist, führt zu der unausweichlichen normativen Frage, welche Art von Kapitalismus die Gesellschaft haben wird, so Palley. „Insbesondere in einer Zeit, in der die Demokratie durch eine zunehmende Flut von politischer Intoleranz und Proto-Faschismus bedroht ist, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir verstehen, welche wirtschaftlichen Arrangements notwendig sind, um Demokratie und eine offene Gesellschaft zu unterstützen“.
Zehn Finanzakteure können die Abkehr von fossilen Brennstoffen beschleunigen
Truzaar Dordia, Sebastian A. Gehricke, Alain Naef, Olaf Weber
Beim Übergang zu einer kohlenstoffneutralen, nachhaltigen Wirtschaft spielen private Investoren und Aktienbesitzer eine entscheidende Rolle. Eine neue Studie von Truzaar Dordia, Sebastian A. Gehricke, Alain Naef und Olaf Weber fügt der fragmentierten Literatur über Finanzsysteme, angebotsseitige Politik und Nachhaltigkeitsübergänge neue Erkenntnisse hinzu. Mithilfe von Netzwerkanalysen kartieren die Autoren die Marktstruktur des Aktienbesitzes in Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft und zeigen, dass sich der Besitz auf eine sehr kleine Anzahl einflussreicher Aktionäre konzentriert. Die Studie zeigt, dass zu den häufigsten Eigentümern unter anderem Unterzeichnerstaaten des Pariser Abkommens und prominente amerikanische Investmentmanager gehören. Diese einflussreichen Personen haben das Potenzial, die strategische Ausrichtung und die Unternehmensführung dieser Firmen zu beeinflussen, und sollten folglich für die Finanzierung der wirtschaftlichen Aktivitäten, die zur Klimainstabilität beitragen, zur Verantwortung gezogen werden. Erstaunlicher- und erschreckenderweise stellen die Autoren fest, dass nur zehn Finanzakteure die Mehrheit der Unternehmen für fossile Brennstoffe kontrollieren und somit einen nachhaltigen Wandel in der gesamten Branche beschleunigen könnten.
Bedingungen einer neuen ökologischen Industriepolitik
Barbara Praetorius & Wolfgang Dierker
Zur Erreichung der globalen Klimaziele ist eine drastische Emissionsminderung in Deutschland und in der Welt in allen Sektoren wie Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr und Landwirtschaft notwendig. Insbesondere der Industrie kommt im Prozess der Dekarbonisierung eine Schlüsselrolle zu. Neben der Emissionsminderung in der eigenen Produktion hat die Industrie die Aufgabe, klimaneutrale Produkte und emissionsfreie Produktionsverfahren hervorzubringen. Um die beschleunigte Emissionsminderung in der Industrie und die Umgestaltung der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität zu beschleunigen, machen Barbara Praetorius und Wolfgang Dierker in einem Beitrag für den Wirtschaftsdienst Vorschläge für eine aktiv gestaltende, neue ökologische Industriepolitik. Dazu gehören die Weiterentwicklung und Ausweitung des Emissionshandels ebenso wie die Innovationsförderung, verbunden mit Maßnahmen zum Schutz des Wirtschaftsstandorts im globalen Wettbewerb bei ungleichen Nachhaltigkeitsstandards. Außerdem müsse die Politik den verstärkten Ausbau erneuerbarer Energien anregen sowie ordnungsrechtliche Vorgaben machen, die für eine zügige Dekarbonisierung sorgen. Mit ihrer Analyse und dem Fokus auf einer staatlichen Steuerung des Strukturwandels zugunsten umwelt- und klimafreundlicher Produkte und Technologien reihen die Autoren sich in einen wachsenden Forschungsstrang ein, der einer aktiven Fiskalpolitik jenseits des „Markt versus Staat“-Dogmas eine bedeutsame Rolle im Transformationsprozess zuweist – ein Paradigmenwechsel, der den jahrzehntelang währenden Konsens darüber, dass eine Verringerung der Rolle des Staates erstrebenswert sei, immer mehr ablöst.
In Innovation investieren: Ein politischer Rahmen zur Erreichung von nachhaltigem Wohlstand in den Vereinigten Staaten
William Lazonick
In einem neuen INET-Working Paper entwickelt William Lazonick, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Massachusetts, einen politischen Rahmen für nachhaltigen Wohlstand in den USA. Darin unterstreicht er die Bedeutung des „Investitionstrios“ aus Unternehmen, Haushalten und staatlichen Behörden. Lazonick verbindet nachhaltigen Wohlstand mit einer Wirtschaft, die ein stabiles und gerechtes Wachstum für eine große und wachsende Mittelschicht erzeugt. Der Autor argumentiert, dass die USA seit den 1980er Jahren aufgrund ungleicher Einkommen, instabiler Beschäftigung und schwacher Innovationstätigkeit der Unternehmen nicht in der Lage sind, dieses nachhaltige Wohlstandswachstum zu erreichen. Während die „Build Back Better“-Agenda der Biden-Regierung darauf abzielt, nachhaltigen Wohlstand durch eine Steigerung der produktiven Fähigkeiten von Regierungsbehörden und Haushalten wiederherzustellen, kritisiert er, dass die Investitionen der Unternehmen hinterherhinken. Viele der größten Unternehmen, so Lazonick, konzentrieren sich mehr auf die Ausschüttung von Dividenden an die Aktionäre als auf Investitionen in die produktiven Fähigkeiten ihrer Belegschaften zur Innovation – was Lazonick als „räuberische Wertschöpfung“ bezeichnet. Aufgrund des hohen Grades der Finanzialisierung von US-Firmen argumentiert der Autor, dass das Biden-Programm scheitern wird, wenn es die Investitionen der Unternehmen in Innovationen nicht stärker fördert und ermöglicht. Abschließend skizziert er einen politischen Rahmen, der die Plünderung der Innovationskraft der Unternehmen stoppen könnte, unter anderem durch eine stärkere Vertretung von Arbeitnehmern und Steuerzahlern in den Vorständen der Unternehmen, eine Reform des Steuersystems, um Innovationen zu belohnen und die Finanzialisierung zu bestrafen, und ein Verbot von Aktienrückkäufen, die als offene Marktrückkäufe durchgeführt werden.
Monetary Targeting Revisited
Florian Kern, Philippa Sigl-Glöckner, Max Krahé
Seit dem Ende des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er Jahre war die geldpolitische Strategie der großen Zentralbanken, einschließlich der Fed und der Deutschen Bundesbank, starken Veränderungen unterworfen. Eine geldpolitische Strategie dient dazu, die Instrumente zu definieren, die eine Zentralbank einsetzt, um ihre politischen Ziele zu erreichen, sowie die eingehenden Daten, die sie beim Einsatz dieser Instrumente berücksichtigt. Sie ist wichtig, um den politischen Entscheidungsträgern einen kohärenten analytischen Rahmen an die Hand zu geben, der die tatsächlichen oder erwarteten wirtschaftlichen Entwicklungen in politische Entscheidungen umsetzt, und um mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. In einem neuen Forschungspapier erläutern Florian Kern, Philippa Sigl-Glöckner und Max Krahé vom Think Tank Dezernat Zukunft, warum die von der Fed und der Deutschen Bundesbank in den 1970er Jahren verfolgte Strategie des ‚Monetary Targeting‘ schwerwiegenden analytischen Fehlern unterliegt, und skizzieren die ideologischen Annahmen, auf denen sie beruhte. Sie schlagen auch eine Bewertung der geldpolitischen Strategie und ihrer Veränderungen seit dem Ende von Bretton Woods vor, um zu klären, welche Rolle die Geldmengensteuerung dabei spielte, dass die Geldpolitik ihre erklärten Ziele nicht erreichen konnte.