NEUES LEITMOTIV

Die New Paradigm Papers des Monats August

Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.

VON

MAREN BUCHHOLTZ

VERÖFFENTLICHT

2. SEPTEMBER 2024

LESEDAUER

5 MIN.

Born in the land of milk and honey: Hometown growth and individual wealth accumulation

Charlotte Bartels, Johannes König, Carsten Schröder

Wie beeinflussen die wirtschaftlichen Bedingungen in unseren Heimatstädten unsere individuellen wirtschaftlichen Aussichten? In einer neuen Studie über Deutschland schätzen Bartels et al., dass eine in München geborene Person zwei- bis dreimal mehr Vermögen aufbaut hat als jemand, der in Recklinghausen im Ruhrgebiet geboren wurde. Die Studie verwendet Wirtschaftswachstumsraten für 401 deutsche Landkreise und Daten aus der 2019er-Welle des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP-P), das Hochvermögende umfasst. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Aufwachsen in einer florierenden Stadt die Chancen auf ein wohlhabendes Leben sowohl für Erben als auch für Nicht-Erben erhöht. Ein hohes Wirtschaftswachstum verringert die relative Bedeutung von Erbschaften und hat insgesamt eine ausgleichende Wirkung auf die Vermögensungleichheit. In Zeiten niedrigen Wachstums und stark schwankender Bodenpreise werden intergenerationale Transfers jedoch eine noch größere Rolle für die Vermögensungleichheit spielen.

Die ganze Studie

 

How to construct a new global order

Dani Rodrik und Stephen Walt

Angesichts einer sich auflösenden internationalen Nachkriegswirtschaftsordnung nehmen die Sorgen vor zunehmenden geopolitischen Spannungen zu. In dieser Studie schlagen Rodrik und Walt ein neues „Meta-Regime“ vor, das sich auf diese neue Weltlage anpasst und versucht, die übliche Dichotomie zwischen Konflikt und Kooperation zu überwinden. In einer ersten Übereinkunft könnte die internationale Gemeinschaft verschiedene Kategorien von Politiken definieren: Die erste Kategorie umfasst verbotene Handlungen wie Verstöße gegen das Völkerrecht oder beggar-thy-neighbour-Politik, die zweite Kategorie umfasst alle Handlungen, die Konflikte zwischen Staaten durch kooperative Verhandlungen lösen, die dritte Kategorie umfasst unabhängige politische Reaktionen eines Landes, das durch die Wirtschaftspolitik eines anderen Landes geschädigt wird wobei die Reaktionen „gut kalibriert“ sein müssen (d.h. nur darauf abzielen, den Schaden zu beseitigen, aber nicht als Vorwand dienen dürfen, um weiteren Schaden zu verursachen). Schließlich ist eine multilaterale Governance erforderlich, um größere Spillover-Effekte zu bewältigen und globale öffentliche Güter bereitzustellen. Die Autoren räumen jedoch ein, dass multilaterale Vereinbarungen nicht immer global sein müssen, sondern auch eine engere Reichweite haben können. Durch die Fokussierung auf eine minimalistische Global-Governance-Architektur könnten selbst Staaten mit unterschiedlichen Interessen und Werten in einer Welt eskalierender Spannungen und zunehmender politischer Polarisierung in der Lage sein, bei den großen globalen Fragen wie dem Klimaschutz oder der öffentlichen Gesundheit zusammenzuarbeiten.

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How much growth is required to achieve good lives for all? Insights from needs-based analysis

Jason Hickel und Dylan Sullivan

Die herkömmliche Vorstellung von wirtschaftlicher Entwicklung besagt, dass alle Länder das hohe Pro-Kopf-BIP der heutigen einkommensstarken Länder erreichen müssen, um die Armut zu beenden und weltweit einen guten Lebensstandard zu gewährleisten. In dem vorgestellten bedürfnisorientierten Entwicklungsansatz definieren die Autoren einen Mindestlebensstandard, der ausreichende Ernährung, Unterkunft, Zugang zur Gesundheitsversorgung, Bildung und Mobilität umfasst. Ihren Berechnungen zufolge würde die Ausweitung des Bevölkerungsanteils mit Zugang zu diesen grundlegenden Lebensstandards von derzeit einem Fünftel der Menschheit auf die gesamte Welt etwa ein Drittel des derzeitigen globalen Ressourcen- und Energieverbrauchs erfordern. Dies bedeutet, dass einige weniger notwendige Produktions- und Konsumformen reduziert werden könnten, um die Armut zu beseitigen und gleichzeitig den Klimawandel zu bekämpfen. Der Schlüssel zur Lösung des (falschen) Dilemmas zwischen menschlichem Wohlergehen und Ökologie liegt darin, sich auf die Komponenten des BIP zu konzentrieren und nicht auf dessen Gesamtheit.

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30 Jahre DIW-Vorschlag zur ökologischen Steuerreform: Verpasste Chance für den Klimaschutz

Stefan Bach, Claudia Kemfert und Barbara Praetorius

Im Sommer 1994 schlug das DIW Berlin eine ökologische Steuerreform mit einer schrittweise ansteigenden Energiesteuer vor, die bis zu 5 % der deutschen Wirtschaftsleistung hätte erbringen können. Mit den Einnahmen sollten die Sozialabgaben der Arbeitgeber gesenkt und den Haushalten ein „Ökobonus“ gewährt werden. Dem Vorschlag zufolge hätte dieser Ansatz den Energieverbrauch und die CO2-Emissionen erheblich gesenkt, während das Wirtschaftswachstum nur minimal beeinträchtigt und die Beschäftigung erhöht worden wäre. Der Vorschlag wurde damals jedoch nicht umgesetzt. Die rot-grüne Regierung erhöhte 1998 lediglich die Kraftstoffsteuern deutlich, was zwar zur Stabilisierung der Rentenbeiträge beitrug, aber wenig für den Klimaschutz tat. Stattdessen konzentrierte sich die Klimapolitik auf die Förderung erneuerbarer Energien. Hätte Deutschland die ursprünglichen Vorschläge zur Steuerreform in den 1990er Jahren aufgegriffen, stünde es heute in Sachen Klimaschutz besser da. Vor diesem Hintergrund forder die Autor*innen einen langfristig und glaubwürdig steigenden CO2-Preis sowie erhebliche staatliche Investitionen in die Transformation.

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The impact of generative artificial intelligence on socioeconomic inequalities and policy making

Valerio Capraro, Austin Lentsch, Daron Acemoglu, et al.

Man kann generative künstliche Intelligenz (KI) als zweischneidiges Schwert betrachten: Während sie die Informationsverarbeitung beschleunigt, kann sie auch Fehlinformationen verbreiten. Am Arbeitsplatz kann sie die Produktivität steigern und neue Arbeitsplätze schaffen, aber die Vorteile werden wahrscheinlich ungleich verteilt sein, wie auch in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt werden vor allem davon abhängen, ob die KI die menschlichen Problemlösungskompetenzen und Fachkenntnisse ersetzen wird oder ob sie im Rahmen einer „arbeitnehmerfreundlichen“ Agenda ergänzend eingesetzt wird. Im Sinne des letztgenannten Ansatzes empfehlen die Autoren Maßnahmen wie die verstärkte Förderung der Forschung darüber, wie KI Aufgaben erfüllen kann, die die menschliche Arbeit ergänzen, die Bereitstellung breit angelegter Schulungsmöglichkeiten für KI-Tools für Arbeitnehmer und die Befähigung der Arbeitnehmer, die Kontrolle über ihre Daten zu haben. Letztlich werden die zukünftigen sozioökonomischen Auswirkungen der KI von den wegweisenden Entscheidungen, die jetzt in der Entwicklung und Politik getroffen werden, abhängen, so die Autoren.

“(…) the rise of powerful AI will be either the best, or the worst thing, ever to happen to humanity. (…) As we stand at the cusp of this new era of human–machine interactions, it is crucial that we engage in thoughtful and inclusive discussions about the role of AI in shaping our society, because the decisions we make today will have lasting impacts on generations to come.”

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Nach ein paar Jahrzehnten allzu naiven Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

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