DER STAAT

Wird der Jahreswirtschaftsbericht unsere Wohlstandsmessung verändern? Short Cut Recap

Wird der diesjährige Jahreswirtschaftsbericht mit seinem Versuch, Wohlstand breiter zu messen, die deutsche Wirtschaftspolitik verändern? Darüber sprachen wir in unserem New Economy Short Cut mit Philipp Steinberg, Nicola Brandt und Maja Göpel.

VON

MAREN BUCHHOLTZ & SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

21. FEBRUAR 2022

LESEDAUER

4 MIN

Die Bundesregierung macht in ihrem gerade veröffentlichten Jahreswirtschaftsbericht einen neuen Versuch, Wohlstand nicht mehr nur über das Bruttoinlandsprodukt zu messen. Wie soll das gehen? Und schließt Deutschland damit zu den Ländern auf, die dabei seit Jahren vorangehen? Wie relevant wird das neue Konzept für die Politik in der Praxis sein?

Philipp Steinberg hat seit geraumer Zeit daran gearbeitet, die Idee einer erweiterten Wohlstandsmessung voranzutreiben, und wirkte maßgeblich daran mit, dass der Jahreswirtschaftsbericht um ein Kapitel mit alternativen Indikatoren erweitert wurde. Nicola Brandt beschäftigt sich bei der OECD seit langem mit der Wohlstands-Frage. Für das Forum schrieb sie mit ihrer Kollegin Lara Fleischer eine Studie, in der die beiden Expertinnen international vergleichen, wo Regierungen schon an neuen Wohlstandsindikatoren und -berichten arbeiten und welche Lehren sich daraus ableiten lassen – auch für Deutschland. Maja Göpel fordert schon lange eine veränderte Wohlstandsmessung als notwendigen Baustein einer nachhaltigen Transformation und hat dazu als Teil einer Gruppe prominenter Unternehmenslenker und Professoren einen „Kompass für Deutschland“ mitentwickelt.

Die wichtigsten Takeaways

Philipp Steinberg stellte eingangs die Motivation für die Neuerungen am Jahreswirtschaftsbericht (JWB) vor:

Planetare Grenzen erforderten die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch. Daher sei eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik im Sinne einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft an der Zeit. Die erweiterte Wohlstandsmessung im diesjährigen JWB baue auf die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) und die vor über einem Jahrzehnt u.a. durch die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission angestoßene Debatte über ein geeignetes Maß für nachhaltiges Wachstum.

Dabei sei man einem pragmatischen Ansatz gefolgt. Neben dem BIP als Kenngröße werden nun weitere, bisher vernachlässigte aber gesellschaftlich relevante Größen ins Zentrum rückt (sog. „mainstreaming“) in fünf Bereichen: I Wachstum, Einkommen und Beschäftigung; II Umwelt- und Klimaschutz; III Bildung, Forschung und Innovation; IV Soziales, Demografie und Integration; V Öffentliche Finanzen und gleichwertige Lebensverhältnisse.

Sowohl Nicola Brandt als auch Maja Göpel begrüßten, dass viele Indikatoren der DNS aufgegriffen worden seien. Allerdings merkten sie an, dass der Bereich der Biodiversität etwas zu kurz gekommen sei. In ihrem Kommentar regte Nicola Brandt an, dass bei manchen Indikatoren ein internationaler Vergleich sinnvoll sei, wie etwa bei der Lohnlücke.

Die Erfahrungen aus anderen OECD-Ländern zeige, dass eine Verstetigung der erweiterten Wohlstandsmessung wichtig für die Kontinuität sei. Deutschland könne dies durch eine entsprechende Erweiterung des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes erreichen. Zudem könne eine unabhängige Instanz den Fortschritt überwachen und die öffentliche Rechenschaft bzw. den Bürgerdialog verstärken, was Schottland und Wales mit den sog. „future generations commissioners“ zeigten. Nicht zuletzt beweise Neuseeland eindrucksvoll, dass eine ressortübergreifende Nachhaltigkeitsstrategie (sog. „wellbeing budget“) gute Ergebnisse erzielen könne. Es wäre zu überlegen, ob das Bundeskanzleramt die Federführung bei der Umsetzung der neuen Initiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klima (BMWK) federführend umsetzen könnte.

Die Frage nach der „politischen Architektur“ warf auch Maja Göpel auf. Aus der Erfahrung der (bereits existierenden) Nachhaltigkeitsstrategie müsse man Konsequenzen ziehen – diese habe keine ausreichende politische Wirkmacht entfalten können, da sie nicht ressortübergreifend umgesetzt worden sei. Deshalb seien vermehrt Allianzen über Ressorts hinweg wünschenswert, damit die erweiterte Wohlstandsmessung im JWB zukünftig orientierend für die Haushaltsplanung werde.

GDP & Beyond

Maja Göpel vertrat die Auffassung, dass eine Korrektur des BIP dringend nötig sei, um die ökonomischen Konsequenzen von klimatischen und ökologischen Kipppunkten abzubilden. Tom Krebs erläuterte einen Vorschlag für ein sozial-ökologisches BIP. Philipp Steinberg zeigte sich offen für diese Abwägungen, betonte jedoch gleichzeitig die Schwierigkeiten beim Aggregieren vieler, mitunter schlecht monetär messbarer, Indikatoren. Die JWB-Indikatoren dienten bisher eher zur Abbildung des Status Quo und seien nicht mit Zielen versehen. In diesem Kontext wies Nicola Brandt auf die Möglichkeit hin, dass unabhängige Forschungsinstitute (wie z.B. die sog. „what-works“-Forschungszentren in Großbritannien) eine Rolle dabei spielen könnten, die Wirkung von geplanten Politikmaßnahmen auf die neuen Wohlstandsindikatoren abzuschätzen.

Für mehr Input zum Thema, siehe auch unser New Economy Interview

Die ganze Diskussion als Re-live

ZUM THEMA DER STAAT

KNOWLEDGE BASE

Jahrzehnte lang galt der Konsens, dass sich der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehen und man die Staatsschulden senken sollte, um den Wohlstand zu fördern. Dies hat jedoch zu chronischen Mängeln in Bildung und Infrastruktur geführt. Neuere Forschung versucht zu erörtern, wann es sinnvoll ist, dass sich der Staat in den Wirtschaftsprozess einmischt, um langanhaltenden Wohlstand zu garantieren und Krisen zu verhindern.

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