NEUES LEITMOTIV
Re-Live: Neues Grundverständnis von Wirtschaftspolitik?
Zwei Erstunterzeichner der 'Berlin Declaration', Branko Milanović und Isabella Weber sprachen bei unserem New Economy Short Cut am 26. Juni darüber, was aus dem Appell folgen könnte.
VON
MAREN BUCHHOLTZVERÖFFENTLICHT
28. JUNI 2024LESEDAUER
3 MIN.Die Berlin Declaration „Winning back the people“ wurde auf dem ‚Berlin Summit‘ von einer beeindruckenden Zahl renommierter Wissenschaftler und Praktiker unterzeichnet. Das wachsende Interesse an der Declaration ist ein deutlicher Hinweis auf eine neue gemeinsame Basis im ökonomischen Denken.
Branko Milanović (CUNY) erklärte, dass die Erklärung eine Reihe von Leitprinzipien für die Wirtschaftspolitik bietet. Sie weicht deutlich vom Washington Consensus ab, indem sie für die Verringerung der ökonomischen Ungleichheit und die Eindämmung von Monopolmacht, die Förderung einer proaktiven Industriepolitik und internationaler Zusammenarbeit sowie ehrgeizige Klimaschutzmaßnahmen durch eine Kombination aus staatlichen Beihilfen und Marktinstrumenten eintritt.
Vor allem geht die Berlin Declaration aber davon aus, dass die Wirtschaftspolitik stets an den lokalen Kontext angepasst werden muss und nicht wie der Washington Consensus, der Effizienz als Kernstück hatte, zu universellen Politikempfehlungen neigt. Branko Milanović argumentierte, dass Markteffizienz zwar ein wichtiges Kriterium sei, aber nicht das einzige Leitprinzip bleiben könne, wenn es zu einer Wirtschaftspolitik führe, die die Gesundheit der Demokratien und das Funktionieren der Gesellschaft untergrabe.
„Man sollte sich nicht nur auf die Effizienz konzentrieren. Wir sind immer noch Ökonomen, denen Effizienz absolut wichtig ist, aber wenn die so genannte ‚Effizienz‘ zu einer gesellschaftlichen Katastrophe oder zu einem Zusammenbruch führt, dann ist es keine Effizienz. (…) Man kann technische Maßnahmen ergreifen, die auf dem Papier effizient erscheinen, aber wenn sie die Gesellschaft zerstören, wird es eine Rückwärtsbewegung geben.“ – Branko Milanović
Isabella Weber (UMass Amherst) stimmte zu, dass das marktliberale Denken zwar auf dem Prüfstand steht, aber immer noch viele politische Entscheidungen dominiert. Vor allem die Standardreaktion auf die Inflation ist nach wie vor durch das traditionelle Stabilisierungsparadigma aus Zeiten des Washington Consensus geprägt, auch wenn internationale Institutionen wie der IWF neuerdings vermehrt eine differenziertere Sichtweise vertreten.
„Das alte Paradigma ist nicht verschwunden, aber in Bedrängnis.“ – Isabella Weber
Weber betonte, dass die Wirtschaftspolitik nicht nur in Krisenzeiten, sondern auch in Vorbereitung auf künftige Schocks, insbesondere im Hinblick auf den Klimawandel, vom Effizienzkriterium abweichen müsse, um ein neues Paradigma zu entwickeln. Sie sprach sich auch dafür aus, für Wirtschaftsbereiche, die für die Öffentlichkeit als „too essential to fail“ gelten, andere Kriterien als die Effizienz zu diskutieren. Ihrer Ansicht nach könnten die Wirtschaftswissenschaftler versuchen zu bewerten, wie man besser mit Preisschocks umgehen und die theoretischen Modelle besser an Krisen anpassen kann. Dabei sollte auch das Potenzial kurzfristiger Stabilisierungsmaßnahmen stärker in den Blick genommen werden.
Branko Milanović und Isabella Weber waren sich einig, dass die Wirtschaftswissenschaften als Teil der Sozialwissenschaft einen verstärkt interdisziplinären Austausch suchen sollten, da die Gestaltung der Wirtschaftspolitik in einer Welt stattfindet, die immer stärker von radikaler Unsicherheit geprägt ist.