NEUES LEITMOTIV
Wie das marktliberale Paradigma aufstieg - und warum es jetzt zerbricht
Ein neues Buch des Historikers Gary Gerstle zeichnet die Kräfte nach, die zum Aufstieg und Fall des marktliberalen Paradigmas geführt haben, und zeigt auf, was dies für die Politik der Gegenwart bedeutet.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
14. NOVEMBER 2022LESEDAUER
7 MINDer Wandel zum Neoliberalismus, der Ende der 1970er Jahre in den USA und Großbritannien begann, hat die Welt grundlegend verändert. Drei Jahrzehnte lang wurde die Wirtschaftspolitik von dem Glauben an eine Verringerung des staatlichen Einflusses und eine marktgesteuerte Globalisierung beherrscht. Dies hat zwar einige Vorteile gebracht, aber auch grundlegende sozioökonomische Probleme geschaffen, die seit der großen Finanzkrise von 2008 immer deutlicher zutage treten. Dazu gehören ein gefährlicher Anstieg der Ungleichheit, wiederkehrende Finanzkrisen, die durch ein hohes Maß an Instabilität auf den Finanzmärkten begünstigt werden, die Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur, Umweltkrisen und der Verlust der Glaubwürdigkeit der Annahme, dass die Globalisierung allen zugutekommt. Das Scheitern des jahrzehntealten Paradigmas der marktorientierten Globalisierung und Wirtschaftspolitik hat zu einem allgemeinen Gefühl des Kontrollverlusts geführt – ein individuelles und politisches Vakuum, das Populisten schnell zu füllen wussten.
Doch während die Diagnose der negativen Folgen des Neoliberalismus relativ eindeutig zu sein scheint, wird in den Debatten über die neoliberale Politik oft nicht erklärt, warum der Neoliberalismus seit mehr als drei Jahrzehnten einen dauerhaften und wirksamen Einfluss auf das gesamte politische Spektrum ausüben konnte.
In seinem neuesten Buch „The Rise and Fall of the Neoliberal Order: America and the World in the Free Market Era“ rekonstruiert der Historiker Gary Gerstle von der Universität Cambridge die Faktoren für den spektakulären Aufstieg des Neoliberalismus in den 1970er Jahren und seinen zunehmenden Verfall seit der Großen Finanzkrise 2008. Dazu stellt Gerstle die neoliberale politische Ordnung in einen 100-jährigen historischen Kontext und verknüpft wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklungen – vom Zusammenbruch der Sowjetunion über den Irak-Krieg und die Große Rezession bis hin zur Wahl von Donald Trump und einer wiedererstarkten amerikanischen Linken unter Führung von Bernie Sanders. Dabei entwickelt er eine Vorstellung davon, wie sich Amerika und die Welt unter dem Einfluss des Neoliberalismus verändert haben und was sein Niedergang für die Politik der Gegenwart bedeutet.
Als sich der Neoliberalismus langsam von einer Idee am Rande zur vorherrschenden politischen Ordnung zu entwickeln begann, war sein Grundprinzip – dass die Märkte von staatlicher Kontrolle befreit werden müssen, um Wachstum, Innovation und Freiheit zu ermöglichen – ein völliges Gegenbild zur Ordnung des New Deal, die ihm vorausging. Doch wie konnte der Neoliberalismus den New Deal ablösen – und von einer politischen Bewegung zu einer politischen Ordnung werden?
Eine politische Ordnung, so Gerstle, erfordert langfristig investierte Geldgeber, Think Tanks und ein Establishment, das politische Ideen in ein tatsächliches Programm umsetzt, und zwar in einer Weise, die über die typischen Wahlzyklen von zwei, vier oder sechs Jahren hinausgeht. Sie erfordert auch einen entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Medien bis hin zu den höchsten Institutionen.
"Eine politische Ordnung ermöglicht es der dominierenden politischen Partei, die gegnerische Partei ihrem Willen zu unterwerfen. Sie gibt vor, was beide Seiten des politischen Spektrums für politisch möglich und wünschenswert halten."
Der New Deal erfüllte diese Definition laut Gerstle von den 1930er- bis zu den 1970er-Jahren, und der Neoliberalismus von den 1970er- bis zu den 2010er-Jahren, als er nach dem Irak-Krieg und der großen Finanzkrise von 2008 allmählich zu bröckeln begann. Ein entscheidendes Ereignis, das es dem Neoliberalismus ermöglichte, von einer politischen Bewegung zu einer politischen Ordnung zu werden, war laut Gerstle der Untergang der Sowjetunion.
"Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Kommunismus. Die Bedrohung, die der Kommunismus für den Kapitalismus darstellte, war groß. Die Angst vor dem Kommunismus veranlasste die Kapitalisten, mit den Arbeitnehmern zusammenzuarbeiten, um das Schlimmste zu verhindern. Das war der Kern der New Deal Ordnung. Die Arbeiterbewegung und der Sozialstaat waren während des Kalten Krieges am stärksten. Nach dem Ende des Kommunismus verschwand der Zwang zur Zusammenarbeit. Der Neoliberalismus erreichte seinen Höhepunkt ...."
Obwohl der Neoliberalismus als Paradigma seinen Ursprung in republikanischen Kreisen hat und unter Ronald Reagan gemainstreamed wurde, hat er sich unter der demokratischen Präsidentschaft von Bill Clinton in den 1990er Jahren vollständig gefestigt. Deregulierung wurde zum Mantra des Jahrzehnts, dessen sichtbarster Ausdruck der Angriff auf Tarifverhandlungen und die weitere Schwächung der bereits angeschlagenen Gewerkschaften war. Progressive Besteuerung wurde ideologisch in Frage gestellt und politisch ausgehöhlt. Um diese Veränderungen zu erleichtern und sie unangreifbar zu machen, wurden wichtige Institutionen drastisch umgestaltet, analysiert Gertle.
Damit hatte der Neoliberalimus es erfolgreich geschafft, politische Grenzen zu überschreiten. Die FT-Kolumnistin Rana Forohaar attestiert Gary Gerstle als zentrale Leistung, dass sein Buch es schaffe, genau dies herauszuarbeiten: dass der historische Aufstieg des Neoliberalismus weder ausschließlich im liberalen noch im konservativen Kontext verankert ist, sondern parteiübergreifend den Rahmen des Möglichen und Wünschenswerten geprägt hat.
Doch drei Jahrzehnte nach ihrem Aufstieg und Triumph hat die neoliberale Ordnung ihre Kraft verloren, ideologische Hegemonie zu erzeugen. Wenn so etwas passiert, so Gerstle, bedeutet das den Niedergang einer politischen Ordnung. Neue politische Ordnungen entstehen nicht oft und nicht ohne Weiteres. Normalerweise treten sie in Krisenzeiten auf, die den Untergang der alten und den Aufstieg der neuen Ordnung beschleunigen. In Krisenzeiten können Ideen, die zuvor als radikal oder heterodox kritisiert wurden, von den Rändern in den Mainstream vordringen. Für den Neoliberalismus beschreibt Gerstle die entscheidenden Krisenmomente als die außenpolitischen Entscheidungen von Politikern wie George W. Bush, nicht zuletzt der Irak-Krieg, die mit der rücksichtslosen Deregulierung der Finanzmärkte, dem Techno-Utopismus, dem Spekulationsrausch an den Börsen und der Verschärfung der Einkommensungleichheit zusammenstieß. Die ohnehin schon brüchigen ideologischen Grundlagen des Neoliberalismus wurden durch die große Finanzkrise im Jahr 2008 vollständig erschüttert, als Millionen von Wählern desillusioniert blieben, nachdem zwar Banken, nicht aber Hausbesitzer gerettet wurden.
"Die neoliberale Ordnung hat versucht, alles zu demontieren, was die Ordnung des New Deal geschaffen hat. Ich prognostiziere, dass das neoliberale Paradigma jetzt ebenfalls demontiert wird. Sie hat die Tür für den Autoritarismus à la Trump und den Sozialismus à la Bernie Sanders geöffnet."
Gary Gerstles Darstellung der Wirtschaftsgeschichte ist eine lohnende Lektüre, um zu erfahren, was die Abrechnung mit dem Neoliberalismus beförderte. Während einige das Buch dafür kritisiert haben, dass es den Schwerpunkt auf den Fall des Kommunismus legt – und dabei die Auswirkungen der umfassenderen Transformation der Weltwirtschaft hin zu industriellem Outsourcing, Billigimporten und einer weitgehend deregulierten Hyperglobalisierung außer Acht lässt -, bietet es eine umfassende Darstellung eines Jahrhunderts sehr komplizierter wirtschaftlicher, politischer und sozialer Trends. Es gelingt Gerstle zu untersuchen, was vom ehemals vorherrschenden neoliberalen Paradigma übrig geblieben ist, und hilft uns so, die Politik und Chancen der Gegenwart besser zu verstehen.