NEUES LEITMOTIV

Das Ende der Bidenomics Saga und Briten im Retro-Modus

Wenn es noch eines Beleges dafür bedurft hätte, wie sehr Regierungen derzeit zwischen dem alten Paradigma der marktliberalen Ära und irgendetwas noch nicht so genau bestimmbar Neuem stecken: Amerikaner und Briten liefern einiges Anschauungsmaterial.

VON

THOMAS FRICKE

VERÖFFENTLICHT

22. NOVEMBER 2022

LESEDAUER

4 MIN

Wenn es noch des einen oder anderen Beleges dafür bedurft hätte, wie sehr Regierungen derzeit zwischen dem alten Paradigma der marktliberalen Ära und irgendetwas noch nicht so genau bestimmbar Neuem stecken: Amerikaner und Briten liefern gerade einiges Anschauungsmaterial.

In den USA hat Joe Biden am Ende bei den Mid-Terms seine Mehrheit im Repräsentantenhaus verloren – womit er auch die Saga von den Bidenomics kaum noch vorantreiben kann (siehe unseren vorigen Newsletter). Dass er den Senat verteidigen konnte, und Trump wie die Republikaner so viel schwächer abschnitten als Umfragen vermuten ließen, könnte allerdings etwas Bemerkenswertes offenbaren. Denn an Joe Biden kann es ja kaum gelegen haben, er ist nach Umfragen höchst unpopulär; auch nicht an den Debatten um das Abtreibungsrecht, wie Martin Sandbu dieser Tage in der Financial Times darlegte. Und die Inflation an sich kann für die regierenden Demokraten auch nur negativ gewirkt haben. Martins Antwort: „it’s the economy, stupid“. Vielleicht schätzen viele Amerikaner doch, wie Biden und die Demokraten so einige Schäden aus der marktliberalen Ära – von steigender Ungleichheit und derben globalisierungsbedingten Brüchen – auszugleichen versucht haben. So ließe sich zumindest erklären, warum die Demokraten trotz Biden, Gesetz der schlechten Ergebnisse der regierenden Partei bei den Mid-Terms und Inflation so gut abschnitten. Eine zweite Chance für Bidenomics?

Gemessen daran sehen die Briten gerade nicht ganz so gut aus – zumindest ihre regierenden Tories. Nachdem der Versuch von den Finanzmärkten sanktioniert wurde, wie zu Thatchers Zeiten mit Steuersenkungen für die Reichen Wachstum schaffen zu wollen, macht die neue Regierung das Gegenteil: mehr oder weniger heillose Austerität, höhere Steuern und sinkende Ausgaben. Dabei ist das nach aller Erfahrung von Griechen und anderen noch schlimmer – weil es die Rezession erstmal zu verschärfen droht, was wiederum neue Schulden nötig macht, um rezessionsbedingte Lücken im Etat auszugleichen.

Wie Thiemo Fetzer in einer viel beachteten Studie vor einiger Zeit herausfand, hat die Austerität zu Beginn der 2010er-Jahren in Großbritannien maßgeblich dazu beigetragen, dass die Menschen in den am stärksten davon betroffenen Regionen später auffällig überproportional für den Brexit stimmten – also für das Drama, dessen Folgen für Wirtschaft und Etat die Regierungen seit Jahren zu spüren bekommen: in Form gesunkener Investitionen, ausbleibenden Wachstums und, eben, höheren Staatsschulden. Die Lernkurve des Menschen verläuft halt nicht immer linear.

Wie in der EU künftig solche fiskalischen Dinge geregelt werden, hat die EU-Kommission kürzlich vorgeschlagen – in einem Entwurf für die Reform der EU-Fiskalregeln. Ob die EU-Europäer aus den Austeritäts-Desastern der Euro-Krise mehr gelernt haben – und ob die neuen Vorschläge helfen, diskutieren wir am 2. Dezember in unserem nächsten New Economy Short Cut online – mit Jeromin Zettelmeyer, dem neuen Chef des Brüsseler Think Tanks Bruegel, und Achim Truger, der die jüngsten Vorschläge des Sachverständigenrats vorstellt. Start: am 2. Dezember um 16 Uhr. Anmeldung hier.

Dieser Text stammt aus unserer zweiwöchig erscheinenden Newsletter-Reihe. Zur Anmeldung geht es hier.

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