NEUES LEITMOTIV

Gescheiterte Bidenomics? Von Thatcher und Reagan zu Truss und Trump

Ist es Zufall, dass gerade in jenen beiden Ländern das demokratische Funktionieren so tief gestört ist, die vor vierzig Jahren als wirtschaftsliberale Vorbilder gefeiert wurden?

VON

THOMAS FRICKE

VERÖFFENTLICHT

4. NOVEMBER 2022

LESEDAUER

2 MIN

Als Joe Biden vor zwei Jahren die Präsidentschaftswahl gewann, war von Bidenomics die Rede – eine Art Umkehr der einst so mächtigen Reaganomics. Da stand plötzlich in Aussicht, dass es eine Administration geben würde, die über billionenschwere Investitionen, mehr soziale Absicherung, höhere Reichensteuern oder einen Green Deal jene Schäden rückgängig machen sollte, die in den Jahrzehnten des Marktfundementalismus und des irrigen Glaubens an ein „trickle down“ des Wohlstands entstanden waren. Eine Epoche wie einst die, die durch Roosevelts New Deal eingeleitet wurde.

Zwei Jahre darauf – und wenige Tage vor den Mid-Terms – scheint klar, dass Joe Biden ziemlich weit hinter dem vermeintlichen Vorbild Roosevelt zurückzubleiben droht. Klar, gab es eindrucksvolle Programme wie zuletzt den Inflation Reduction Act, mit dem enorm viel Geld für den Klimaschutz mobilisiert werden soll. Das Drama ist: vieles scheiterte an mangelnden Mehrheiten bei den Demokraten. Und: die Inflation macht vieles wett, was an Besserung angelegt war – auch am Arbeitsmarkt, wo sich die Lage nach Diagnosen von Mike Konczal vom Roosevelt Institute so eindrucksvoll gebessert hat wie in keinem Aufschwung seit langem.

Dass Biden die Unterstützung der Leute zu verlieren droht, könnte allerdings auch reflektieren, wie tief die wirtschaftliche Spaltung in den USA sitzt. Wie Nobelpreisträger Angus Deaton in einem Beitrag diese Woche eindrucksvoll darlegt, hat sich die Lage für einen großen Teil der Amerikaner in den vergangenen Jahrzehnten drastisch verschlechtert. Die Lebenserwartung für weniger gebildete Männer sinkt seit 2010, für Frauen sogar seit 1990. Wer keinen College-Abschluss hat, verdient heute real weniger als entsprechende Amerikaner 1970. Das hält keine Demokratie auf Dauer unbeschadet aus.

Die Diagnose ist nicht neu, klar. Wenn man das so liest, drängt sich nur die Vermutung doch auf: was all das an Vertrauensverlust in die US-amerikanischen Institutionen und Eliten mit sich gebracht hat, lässt sich in zwei Jahren nicht mal so beseitigen – und es wäre selbst dann schwer geworden, wenn Biden immer seine eigenen Mehrheiten hinter sich gehabt hätte. Das Drama ist: nach den Wahlen am Dienstag könnte es damit ohnehin vorbei sein – und so auch mit der Hoffnung, dass in Amerika etwas passiert, was in seiner stabilisierenden Wirkung auf die Gesellschaft dem New Deal der 1930er-Jahre entspricht. In zwei Jahren könnte gar Donald Trump wieder Präsident sein – oder jemand, der nicht besser ist – jedenfalls jemand, der eher mit lautem Getöse antritt, statt mit einem Programm, das die tieferen Probleme des Landes löst. Ein eher schauernder Gedanke.

Ist es Zufall, dass gerade in jenen beiden Ländern das demokratische Funktionieren so tief gestört ist, die vor vierzig Jahren als wirtschaftsliberale Vorbilder so gefeiert wurden? Dass in Großbritannien die Thatcher-Partei heute so gagaesk verloren wirkt – und in den USA Attacken auf die Demokratie denkbar geworden sind? Natürlich nicht. Es wird in diesen Tagen nur so verstörend offenbar. Und es macht klar, wie existenziell wichtig es ist und bleibt, nach neuen und besseren Antworten zu suchen. Zumal und vor allem dort, wo die Lage noch nicht so irre wirkt.

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