DER STAAT

Öffentliche Wertschöpfung wieder im Mittelpunkt der Wirtschaft

In einem kürzlich erschienenen Beitrag plädieren Mariana Mazzucato und Josh Ryan-Collins für eine öffentliche Hand, die Märkte nicht nur korrigiert, sondern aktiv mitgestaltet.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

29. APRIL 2022

LESEDAUER

5 MIN

Nach Jahrzehnten der Marktliberalisierung, in denen das vorherrschende Leitmotiv der zunehmende Rückzug des Staates aus möglichst vielen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft war, wirkte die Große Finanzkrise von 2008 wie ein Katalysator, der das Diktum des effizienten Marktes in Frage stellte.

Seitdem ist das Urvertrauen in die wertschöpfende Kraft des Marktes deutlich geschwunden und hat immer häufiger staatlichen Eingriffen Platz gemacht. Die Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben diesen Trend nur noch verstärkt. Für ein mögliches neues Gleichgewicht zwischen Staat und Markt fehlt jedoch noch immer ein kohärentes neues Leitprinzip, und so überrascht es nicht, dass ein Großteil der Mainstream-Ökonomie Handlungsempfehlungen nach wie vor auf der Annahme basiert, dass die Wertschöpfung überwiegend im privaten Sektor stattfindet und der Staat sich auf eine marktkorrigierende Funktion beschränken sollte, falls die Ressourcenallokation durch die Märkte nicht pareto-optimal ist.

In ihrem jüngsten Beitrag für das Journal of Economic Policy Reform argumentieren Mariana Mazzucato und Josh Ryan-Collins, dass bestehende Public-Value-Konzepte, die eine marktregulierende Rolle des Staates fordern, der Tatsache nicht gerecht werden, dass Märkte von privaten und öffentlichen Sektoren gemeinsam geschaffen werden. Stattdessen plädieren sie für eine neue Definition von „Public Value„, bei der ein aufgabenorientierter Staat die Märkte im Einklang mit öffentlichen Zielen mitgestaltet, anstatt nur als Korrektiv zu wirken. Mazzucato und Josh Ryan-Collins argumentieren, dass eine solche richtungsweisende Rolle von entscheidender Bedeutung ist, um verschiedene Akteure in die Lage zu versetzen, die großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart anzugehen, darunter Klimawandel, Ungleichheit und die Erosion guter Arbeitsplätze.

Das abstrakte theoretische Konzept des Marktversagens ist aus der neoklassischen Wohlfahrtsökonomie hervorgegangen und war ursprünglich nicht als Rahmen für die Steuerung der Politik gedacht. Dennoch wurde es von politischen Entscheidungsträgern zunehmend als Rechtfertigung für Interventionen herangezogen, wodurch die Rolle des öffentlichen Sektors eng mit der eines „Marktreglers“ und „Ermöglichers“ für die Wertschöpfung des privaten Sektors verknüpft wurde. Beim Regeln und Ermöglichen sollten die Regierungen Strategien des privaten Sektors übernehmen, um die Wertschöpfung des öffentlichen Sektors zu maximieren. Damit hat der öffentliche Sektor keine klare Aufgabe, selbst proaktiv Werte zu schaffen. Mazzucato und Ryan-Collins argumentieren, dass dieses enge Konzept der öffentlichen Wertschöpfung überdacht und über den Bereich des öffentlichen Managements und der Verwaltung hinaus erweitert werden sollte.

Im Gegensatz zur konventionellen Ökonomie betont ein aufgabenorientiertes und proaktives Konzept der öffentlichen Wertschöpfung, wie der öffentliche Sektors eine wichtige Rolle dabei spielt, ein Gleichgewicht zwischen dem Bedarf an effizienten Dienstleistungen und der Einbindung der Bürger in die politische Entscheidungsfindung herzustellen. Um zu einem solchen Konzept des Public Value zu gelangen, muss das Konzept des „Marktversagens“ als Grundlage für staatliche Wertschöpfung ersetzt werden.

Wir sehen Public Value nicht als etwas, das entsteht, wenn der öffentliche Sektor Marktversagen korrigiert oder erfolgreich den Kompromiss zwischen Demokratie und Effizienz vermittelt, sondern argumentieren, dass die Schaffung von Public Value darin bestehen muss, dass der öffentliche Sektor eine Richtung und einen öffentlichen Zweck vorgibt, damit private und öffentliche Akteure zusammenarbeiten und innovativ an der Lösung gesellschaftlicher Probleme arbeiten.
Mariana Mazzucato & Josh Ryan-Collins

Auf diese Weise wird der öffentliche Sektor von einem Marktregulierer zu einem Marktgestalter. Hier wird dem Staat eine potenziell wichtige makroökonomische Rolle zugeschrieben, die nicht nur über das neoklassische Paradigma des Marktversagens, sondern auch über die keynesianische Idee des antizyklischen oder stabilisierenden Akteurs hinausgeht. Stattdessen interveniert der öffentliche Sektor mit einem stärkeren Richtungsimpuls (Mazzucato et al. 2020).

Eine solche Entwicklung kann nicht ohne einen umfassenderen Paradigmenwechsel vollzogen werden, bei dem Märkte nicht mehr als abstrakte Phänomene betrachtet werden, die für sich allein funktionieren, sondern vielmehr als Ergebnisse der Interaktionen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren verstanden werden.

Abgesehen von den konzeptionellen Unzulänglichkeiten der Theorie des Marktversagens in Bezug auf die öffentliche Wertschöpfung ist ein solcher Wechsel auch notwendig, um die Entwicklung neuer dynamischer Fähigkeiten und Innovationen durch verschiedene Akteure zu ermöglichen, die den Herausforderungen des modernen Kapitalismus erfolgreich begegnen können, so Mazzucato und Ryan-Collins.

Dazu muss der öffentliche Sektor neue dynamische Fähigkeiten entwickeln, um zu erforschen und zu experimentieren und durch Trial und Error zu lernen, und zwar im Rahmen der Verfolgung gesellschaftlicher Aufgaben.
Mariana Mazzucato & Josh Ryan-Collins

Mazzucato und Ryan-Collins räumen jedoch auch ein, dass Public Value in der politischen Arena von Natur aus umstritten ist und dass es sich als schwierig erweist, Wege zu finden, auf denen öffentliche Akteure gemeinsam mit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft und dem Markt Werte schaffen können. Einem solchen Prozess fehlt ein kohärentes neues Leitprinzip. Wie sollte ein neues Gleichgewicht zwischen Staat und Markt aussehen? Wie kann staatliches Handeln effizienter gestaltet werden? Welche alternativen Akteure jenseits der traditionellen Verwaltung können dabei eine Rolle spielen?

Um einige dieser und anderer grundlegender Fragen rund um die Rolle des Staates, einschließlich jener nach der Zukunft der öffentlichen Wertschöpfung zu erörtern, veranstaltet das Forum New Economy am 24. und 25. Mai einen New Paradigm Workshop.

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Jahrzehnte lang galt der Konsens, dass sich der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehen und man die Staatsschulden senken sollte, um den Wohlstand zu fördern. Dies hat jedoch zu chronischen Mängeln in Bildung und Infrastruktur geführt. Neuere Forschung versucht zu erörtern, wann es sinnvoll ist, dass sich der Staat in den Wirtschaftsprozess einmischt, um langanhaltenden Wohlstand zu garantieren und Krisen zu verhindern.

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