GLOBALISIERUNG

Vom Mauerfall zur Schwarzen Null – Woher kommt Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss?

Eine Rezension von Kapitel 5 aus Mathew Kleins und Michael Pettis' “Trade Wars are Class Wars”

VON

MARC ADAM

VERÖFFENTLICHT

6. AUGUST 2020

LESEDAUER

8 MIN

Kaum ein Tag vergeht ohne Nachrichten über die eskalierenden diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und den USA. Vier Jahre nach der letzten US Wahl wissen wir, dass viel von Donald Trumps Wahlerfolg mit dem sogenannten „China Schock“ zu tun hat.[1] Der massive Exportüberschuss den China über zwei Jahrzehnte hinweg generierte, flutete die USA mit Waren, die früher im Nord-Osten der USA selbst hergestellt wurden. Die einstige Industrieregion verkam alsbald zum sozialen Brennpunkt und zum Zentrum der Opioid Krise. Sofern man diesen Zusammenhang anerkennt, lässt sich weiter argumentieren, dass Donald Trump mit seinem Handelskrieg gegen China lediglich ein Wahlversprechen bei der weißen Arbeiterklasse im Land einlöst. Der eindrucksvolle Beitrag von Klein und Pettis geht jedoch über die bestehende Literatur hinaus, die den Aufstieg der Rechtsnationalisten in den USA und Europa zu erklären versucht. Denn statt ausschließlich die Entwicklungen im Defizitland USA zu erörtern, werfen die Autoren ein genaues Auge auf jene Länder, die den Überschuss überhaupt erst generieren. Die Verantwortung für den derzeitigen Trend zur Deglobalisierung sehen sie vor allem bei den Überschussländern China und Deutschland. Die Hauptthese des Buches zeigt sich in dem provokanten Titel: Handelskriege sind Klassenkämpfe. Oder um es etwas weniger radikal zu formulieren:

Die These des Buchs ist, dass steigende Ungleichheit innerhalb von Ländern zu Handelskonflikten zwischen ihnen führt.

Tatsächlich geht es in dem Buch nicht nur um den Handelskrieg zwischen China und den USA. Das Buch versucht dem derzeitigen Trend zurück zum Nationalstaat und weg von der Globalisierung einen allgemeinen Erklärungsansatz entgegenzustellen, weshalb die Autoren Deutschland ein ganzes Kapitel als Fallstudie widmen. Auch wenn der deutsche Leistungsbilanzüberschuss vis-à-vis den USA im Vergleich zu China gering ist, stimmt das nicht für die EU als Ganzes. Und wie Klein und Pettis anschaulich zeigen, ahmt die EU das deutsche Modell spätestens seit der Eurozonenkrise nach. Wie in Deutschland bereits vor der Krise, wurden nun auch im Rest von Europa innere sozioökonomische Probleme externalisiert und die Überschüsse auf den Rest der Welt gespült. Einmal mehr musste die USA die „übermäßige Bürde“ auf sich nehmen und als finaler Absatzmarkt für den globalen Konsum dienen.

Die These, dass steigende Ungleichheit in Deutschland und politische Fehler zur derzeitigen Globalisierungskernschmelze beigetragen haben, untermauern die Autoren indem sie uns 30 Jahre mit zurück zum Fall der Berliner Mauer nehmen. Während 1989 in China die chinesische Demokratiebewegung durch das Tiananmen Massaker zerschlagen wurde, gelang der ostdeutschen Bevölkerung die friedliche Revolution. Das Jahr 1989 wird somit als Schlüsselmoment für die Wirtschaften beider Länder betrachtet. Beide Ereignisse waren prägend für den weiteren wirtschaftlichen Entwicklungspfad und die Abschnitte zum Wiedervereinigungsprozess sind gerade zum 30. Jubiläum äußerst lesenswert.

Die Wiedervereinigung begann die DDR unter dem Druck einer hohen Auslandsverschuldung und Emigration. Mitunter erinnert der Narrativ an die Dramaturgie während der Eurozonenkrise, als sich die Eurokrisenländer dem Reformdruck aus Mittel- und Nordeuropa beugen mussten. Forderungen von Helmut Kohl aus dem Jahr 1990 wie „…wirtschaftliche Hilfe kann nur dann wirksam werden, wenn grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems erfolgen“ oder „Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren“ erinnern stark an die Rhetorik Wolfgang Schäubles und der Troika zwischen 2012 und 2015.

Streckenweise fragt sich der/die Leser:in, ob es eine bestimmte deutsche Ideologie im Modus Operandi der deutschen Wirtschaftspolitik der letzten 30 Jahre gibt.

Tatsächlich hätte man als Kapitelüberschrift wohl auch eine treffende Referenz zu Marx und Engels berüchtigtem Werk „Die deutsche Ideologie“ finden können. Denn es ist gerade die Schnittstelle zwischen Wirtschaftspolitik und Ideologie, die hier am meisten begeistert, aber auch ein paar Fragen offen lässt. Wie genau sind die politischen Entscheidungen zu erklären, die zum Konsumverzicht der Bevölkerung, steigenden Unternehmensprofiten und dem berühmten Exportüberschuss Deutschlands führten? War es die Ideologie und das herrschende wirtschaftspolitische Paradigma, dass zu diesen Entscheidungen führte, oder wird diese Ideologie selbst durch eine Veränderung der materiellen Verhältnisse bestimmt? In einem kürzlich veröffentlichten Interview mit dem Wirtschaftshistoriker Adam Tooze argumentiert Matt Klein, „dass es eine Mischung aus all diesen Faktoren ist. Es gab eine ideologische Komponente und es ist schwer vorstellbar, wie bestimmte Entscheidungen ohne diese getroffen werden konnten. Aber es gab auch andere Faktoren.“ [2]

Was Klein und Pettis (KP) schlussendlich suggerieren ist, dass es Veränderungen in der Einkommens- und Vermögensverteilung sind, die nicht nur die Struktur der Wirtschaft, sondern auch das vorherrschende ökonomische Leitmotiv verändern. Wie Marx und Engls in 1846 schrieben:

„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken.“

Die Beweislage ihrer Klassenkampfthese wird u.a. durch Peter Hartz, dem Vorsitzenden der Hartz-Kommission von 2002, veranschaulicht. Zwar ist Peter Hartz vor allem als Vordenker der berüchtigten Hartz Reformen bekannt, aber KPs Punkt ist ein anderer: „Die Bedeutung von Hartz IV wird oft überschätzt. Deutschlands mageres Lohnwachstum und Unterinvestitionen waren keine Folgen von Kürzungen der Sozialleistungen, sondern von Entscheidungen, die in den 1990er Jahren getroffen wurden.“ Denn Peter Hartz verkörpert KPs These vor allem, weil er von 1993 an Personalchef von Volkswagen und damit Teil jener exportorientierten Elite war, die in den 90er Jahren Lohnkürzungen durchsetzten. Das Hauptargument stellt sich anschaulich in Abbildung 5.4 dar. Die Abbildung zeigt, dass sich Anteilseigner zwischen 1993 und 2007 mehr und mehr vom Ertragswert nicht-finanzieller Unternehmen angeeignet haben.

Die Gewinnsteigerung auf Kosten der Arbeitnehmer ist auf Entscheidungen der Unternehmen und der Regierung im Zuge der Wiedervereinigung zurückzuführen. Durch die wirtschaftliche Öffnung ehemaliger Sowjetstaaten entstand die Gefahr, dass Unternehmen Arbeitsplätze nach Osteuropa auslagern würden. „Die unermüdliche Fokussierung der deutschen Elite auf internationale Wettbewerbsfähigkeit ermöglichte eine massive Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Arbeitern und Kapitalbesitzern.“ Jahre später, im Zuge der Eurokrise, wurde Deutschlands Mantra der internationalen Wettbewerbsfähigkeit seinen Nachbarn eingeschärft und die Eurozone als Ganzes fing an einen beträchtlichen Leistungsbilanzüberschusses zu produzieren.

Jedoch beschreiben KP auch ausführlich jene institutionellen Zwänge, die die Bundesregierung zwischen 1991 und 2007 zum Sparen zwangen. Diese institutionellen Strukturen stützen die These der Autoren aber nur bedingt, da sie nicht nationalen Ursprungs sind. Die institutionellen Rahmenbedingungen, die eine Erhöhung der Staatsausgaben verhinderten, finden sich auf europäischer Ebene und können nur bedingt durch höhere Ungleichheit innerhalb Deutschlands erklärt werden. Den Fall der staatlichen Investitionen in Infrastruktur und Instandhaltung um 20 Prozent zwischen 1992 und 1998 etwa, führen KP auf Deutschlands unermüdliches Engagement zur Einhaltung der Konvergenzkriterien im Vertrag von Maastricht von 1992 zurück. Als Deutschland 2001 in eine Rezession schlitterte, verhinderte die neue gemeinsame europäische Währung, dass Deutschland seine Zinslast senken konnte. Gleichzeitig war die Bundesregierung in ihrer Kreditaufnahme und Konjunkturankurbelung gehemmt. Diesmal deckelte der neu geschaffene Stabilitäts- und Wachstumspakt (1997) den Staatshaushalt zusätzlich zu den Maastricht-Kriterien.

Diese Faktoren sind mit steigender Ungleichheit in Deutschland allein nur schwer zu erklären. Selbst der Anstieg der Ungleichheit innerhalb der gesamten Eurozone reicht als Erklärung nicht aus, da ähnliche politische Umwälzungen in Großbritannien, den USA und anderswo stattfanden. Institutionen wie der Vertrag von Maastricht wurden innerhalb eines wirtschaftspolitischen Paradigmas geschaffen, das alle westlichen Volkswirtschaften dominierte. Dieses Paradigma könnte sicherlich von der herrschenden Klasse geprägt worden sein, die mit zunehmender Ungleichheit an Einfluss gewann und KP stellen überzeugend dar, dass dies tatsächlich der Fall gewesen sein könnte. Der Anstieg der Ungleichheit in den westlichen Industrienationen lässt sich jedoch mindestens seit den frühen 80er Jahren beobachten, was fast eine Dekade vor dem Schlüsseljahr 1989 liegt. Ob diese ursprüngliche Verschiebung in der Einkommens- und Vermögensverteilung auf Steuerreformen, Finanzialisierung, Globalisierung oder eine bestimmte Ideologie zurückzuführen ist bleibt ungeklärt.

Insgesamt überzeugt KPs Narrativ, dass zunehmende Ungleichheit innerhalb der Industrienationen für die heutige nationalistische Gegenreaktion verantwortlich ist. Das gesamte Buch und insbesondere das Kapitel über Deutschland sind all jenen zu empfehlen, die die globalen politischen Spannungen von heute verstehen möchte.

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Nach drei Jahrzehnten schlecht gemanagter Integration ist die Globalisierung durch soziale Unzufriedenheit und den Aufstieg populistischer Kräfte bedroht. Es gilt dringend die negativen Nebeneffekte auf viele Menschen zu beheben - und klarer zu definieren, welche Herausforderungen auf lokaler oder regionaler, und welche über Grenzen hinweg angegangen werden sollten.

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