NEUES LEITMOTIV

Simon Johnson über Macht und Fortschritt: sollte der Staat Innovationen lenken?

Simon Johnson hat bei unserem letzten New Economy Short Cut in Zusammenarbeit mit der OECD Berlin sein Buch "Macht und Fortschritt" vorgestellt. Wir haben die wichtigsten Punkte zusammengefasst.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

21. DEZEMBER 2023

LESEDAUER

4 MIN

Von der Verbesserung der Landwirtschaft im Mittelalter über die industrielle Revolution bis hin zur künstlichen Intelligenz (KI) von heute – im Laufe der Geschichte wurde der technologische Wandel von vielen als wichtiger Motor des Fortschritts angesehen. Zwei der weltweit führenden Ökonomen, Daron Acemoglu und Simon Johnson, widersprechen dieser Ansicht in ihrem neuen Buch „Macht und Fortschritt“. Obwohl sie nicht bestreiten, dass der technische Fortschritt die Menschen reicher und sogar glücklicher gemacht hat, argumentieren sie, dass der Glaube, dass technische Erfindungen automatisch den Wohlstand erhöhen, ein Trugschluss ist.

Simon Johnson präsentierte die Hauptargumente des Buches bei unserem letzten New Economy Short Cut2 in Zusammenarbeit mit dem OECD Berlin Centre. ZEW-Präsident Achim Wambach und die Leiterin des OECD Berlin Centre, Nicola Brandt, sprachen mit ihm.

Das Buch von Johnson und Acemoglu basiert auf drei Kerngedanken. Der erste ist, dass technologischer Fortschritt an sich weder positiv noch negativ ist. Vielmehr ist es eine politische Entscheidung, wie sich technologischer Wandel auf Wohlstand und Beschäftigung auswirkt. Die Geschichte ist voll von Beispielen für beide Seiten des Spektrums, argumentiert Johnson. Während der technologische Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre zu einem Anstieg des Lebensstandards und der Löhne geführt habe, sei dieser Trend in den letzten Jahrzehnten in eine zunehmende Polarisierung umgeschlagen.

Der zweite zentrale Gedanke des Buches ist die einer „Produktivitätswelle“. Mit diesem Begriff beschreiben Johnson und Acemoglu den Kreislauf von technologischen Verbesserungen, die zu Produktivitätssteigerungen führen, welche wiederum die Nachfrage nach Arbeit erhöhen. Wenn technologischer Fortschritt mit einer Produktivitätsspirale einhergeht, entsteht eine positive Wohlstandsdynamik.

Der dritte Gedanke ist eher eine Frage und vielleicht die zentrale: Wie können Politik und Gesellschaft die richtigen Rahmenbedingungen für einen technologischen Wandel schaffen, der Wohlstand für viele ermöglicht? Was waren dafür in der Vergangenheit die Schlüsselfaktoren? Und können wir sie replizieren? Für Johnson müssen dafür drei zentrale Bedingungen erfüllt sein. Erstens müsse die Automatisierung mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze einhergehen. „An Henry Fords Fließbändern wurden Menschen durch Maschinen ersetzt. Aber er und die Manager und Ingenieure um ihn herum schufen eine Menge neuer Aufgaben, von denen viele Fachwissen erforderten, und für dieses Fachwissen zahlten sie Spitzenlöhne“.

Das zweite wichtige Element sind laut Johnson starke Gewerkschaften und das Modell des gemeinsamen Wohlstands. In den 1930er Jahren spielten die Gewerkschaften eine zentrale Rolle, um sicherzustellen, dass die Vorteile der höheren Produktivität in den Automobilunternehmen durch höhere Löhne und andere Vergünstigungen an die Arbeitnehmer weitergegeben wurden. Das dritte Element ist laut Johnson politischer Natur: Es müsse sichergestellt werden, dass die Arbeitnehmer gleiche Rechte haben und in den Parlamenten und allen demokratischen Institutionen vertreten sind.

Die heutigen Volkswirtschaften, so Johnson, seien weniger in der Lage, neue Arbeitsplätze zu schaffen, und der gewerkschaftliche Organisationsgrad sei trotz einer gewissen Erholung nach der Corona-Pandemie so niedrig wie nie zuvor. Er warnte auch davor, dass das Vertrauen in die Fähigkeit der Technologie, positive Veränderungen herbeizuführen, in vielen Gesellschaften schwer erschüttert sei und durch die sozialen Medien noch verstärkt werde.

"Die Menschen denken, dass KI alles nur noch schlimmer macht. Aber wir können lernen, Technologien zu identifizieren, zu finden und zu entwickeln, die mehr neue Aufgaben schaffen."
Simon Johnson

Einiges davon wird bereits als Teil der neuen Industriestrategie in den USA und auch in Europa diskutiert. Für den Rest der Welt warnte Johnson davor, dass eine massive Automatisierung der Weltwirtschaft negative Auswirkungen auf die verarbeitende Industrie in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen haben könnte.

"Ich glaube, dass uns ein Ausmaß an Trauma und Schwierigkeiten bevorsteht, das zwar nicht beispiellos ist, aber für diese Länder und diese Menschen sehr schwer zu überwinden sein wird".
Simon Johnson

Achim Wambach stimmte zu, dass gute Institutionen wichtig sind, um den technologischen Fortschritt zu lenken. Gleichzeitig könnten Innovation umgekehrt aber auch die Schaffung besserer Institutionen vorantreiben. Er betonte auch, dass der Großteil des technologischen Wandels heute aufgaben- und qualifikationsbezogen sei. Ohne Investitionen in die Bildung sei eine Polarisierung kaum zu vermeiden. Gleichzeitig, so Wambach, sei es aufgrund des Arbeitskräftemangels in den Industrieländern weniger wahrscheinlich, dass sich KI und Digitalisierung negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken. Problematischer sind laut Wambach die Innovationsbeschränkungen in Europa durch Gesetze wie der EU „Artificial Intelligence Act“ oder der „Digital Markets Act“. „Diese Gesetze schützen eher große Unternehmen, sind aber ein großes Problem für kleine Unternehmen. Sie lenken in gewisser Weise die Innovation, die es bereits gibt. Was man sich stattdessen wünscht, sind Institutionen, die die Innovationen lenken, die noch kommen werden. Wenn man Innovation lenkt, läuft man aber immer auch Gefahr, sie zu ersticken.“

Abschließend erinnerte Simon Johnson daran, dass sich eine innovative Gesellschaft gar nicht so sehr von einem innovativen Unternehmen unterscheide. Niemand würde von Risikokapitalgebern erwarten, dass sie bei jeder Investition, bei jeder Innovation erfolgreich seien. Daher sollte man derartiges auch nicht von Regierungen erwarten. Es sollte ihnen vielmehr erlaubt sein, Risiken einzugehen, denn eine Ergänzung der Automatisierung durch neue Aufgaben erfordere viel neues, kreatives und schnelles Denken und sei ein äußerst schwieriges Unterfangen. Der Unterschied zwischen Regierung und Wirtschaft sei, so Johnson, dass die Wirtschaft zwar von neuer Technologie begeistert sei, sich aber nicht für den erweiterten Einsatz menschlicher Fähigkeiten und die Vermeidung von Entlassungen verantwortlich fühle.

"Es gibt einen Weg zu mehr Innovation, zu mehr Dynamik, zu mehr guten Arbeitsplätzen, zur Stärkung von Menschen. Werden wir diesen Weg finden? Ich weiß es nicht, aber genau daran versuchen wir zu arbeiten."
Simon Johnson

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