NEUES LEITMOTIV

Rückkehr des Staates: Modephänomen oder neues Paradigma? Neuer Forum Bericht

Der Staat ist wieder gefragt. Eine Mode gegen die ökonomische Vernunft? Oder Teil eines neuen ökonomischen Paradigmas? Das haben wir in unserem Report „Mapping the state of a shifting paradigm“, ausgelotet.

VON

FORUM NEW ECONOMY

VERÖFFENTLICHT

12. JANUAR 2023

Mehr als drei Jahrzehnte lang hat sich die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik stark an marktliberalen Grundsätzen orientiert. Seit der Finanzkrise 2008 hat dieses Leitmotiv viel von seiner Anziehungskraft verloren und ein gefährliches paradigmatisches Vakuum hinterlassen, das Populisten zu füllen versuchen.

Das Scheitern früherer Leitlinien hat auch zu vielen scheinbar ad hoc erfolgenden staatlichen Interventionen zur Lösung aktueller Krisen geführt – von Corona-Hilfen, über die Gaspreisbremse, Klimapakete, Energiepauschalen und Bürgergeld, bis hin zum Inflation Reduction Act in den USA und dem EU Next Generation Fund.

Ist dieses Comeback des Staates eine Art gesellschaftliche Modeerscheinung ohne systematische wirtschaftliche Grundlage? Oder spiegelt es die Entstehung eines neuen Paradigmas wider, das entscheidend dazu beiträgt, ausgefeiltere Antworten auf die neuen großen Herausforderungen zu finden, die die marktliberale Ära hinterlassen hat, vom Klimawandel und gravierenden Ungleichheiten bis hin zur Krise der Globalisierung und der Instabilität der Finanzmärkte?

In unserer jüngst veröffentlichten Studie „Mapping the State of a Shifting Paradigm“, haben wir versucht zu beurteilen, ob die jüngsten Entwicklungen in Forschung und Politik die Anfänge eines solchen neuen Paradigmas widerspiegeln. Die Studie bewertet auch, welches Stadium diese Erneuerung im Vergleich zu früheren Paradigmenwechseln in der Geschichte erreicht hat. Welche neue Forschungsstränge und Denkschulen gibt es? Welche Organisationen und Forscher arbeiten an einem neuen Paradigma? Gibt es Anzeichen für Paradigmenverschiebungen in entscheidenden internationalen Institutionen? Und wie sieht es in der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik aus?

In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat sich ein umfassendes akademisches Werk in einer Vielzahl von Bereichen entwickelt. Der Bericht identifiziert mindestens ein Dutzend wichtiger neuer Denkrichtungen, die jeweils von prominenten internationalen Denkern vertreten werden – von Dani Rodrik über die Neudefinition der Globalisierung und Thomas Piketty über den Abbau von Ungleichheiten bis hin zu Mariana Mazzucatos Arbeit über einen innovativen Staat. Für Deutschland werden solche neuen Denkströmungen von innovativen Forschern wie Moritz Schularick, Jens Südekum oder Isabella Weber vertreten. Diese weitgehend unkoordinierte Arbeit hat das Potenzial, im Nachhinein als intellektueller Kern eines neuen Paradigmas gesehen zu werden, so wie es die Arbeit der Monetaristen und Supply-Sider in der Vergangenheit für das marktliberale Paradigma war.

Unser systematischer Zeitvergleich bestätigt, dass es seit den Hochzeiten des Marktliberalismus auch einen deutlichen Paradigmenwechsel in den Positionen der führenden internationalen Institutionen gibt. Die OECD, die in den 1990er Jahren flexible Arbeitsmärkte befürwortete, setzt sich heute für Mindestlöhne und bessere Arbeitsplätze ein. Der IWF hat seine früher bedingungslose Unterstützung für den freien Kapitalverkehr aufgegeben. Auch Institutionen wie der IWF und die EU-Kommission setzen sich heute für eine flexiblere Finanzpolitik statt für harte Sparmaßnahmen ein. Das Gleiche gilt für einzelne Regierungen wie die 2021 gebildete Ampelkoalition in Deutschland, die seitdem den nationalen Mindestlohn erhöht, große kreditfinanzierte öffentliche Klima-Investitionspakete verabschiedet oder neue Wohlstandsbegriffe und ergänzende Indikatoren zum BIP im jährlichen Wirtschaftsbericht der Regierung eingeführt hat.

Vergleicht man die aktuellen Veränderungen mit früheren historischen Beispielen, wird klar, dass ein Wandel stattfindet. Es wird aber auch deutlich, dass wichtige Elemente für einen umfassenden Paradigmenwechsel fehlen. Es müssen noch Antworten auf große Herausforderungen gefunden werden, z. B. wie man sozial kritische Vermögensungleichheiten, die sich durch Vererbung zu verfestigen scheinen, abbauen kann. Die Veränderungen, die in den großen Institutionen spürbar sind, bleiben meist schrittweise, und es gibt nur wenige Beispiele für wichtige neue Ansätze, wie z. B. das neue Wohlstandsbudget in Neuseeland. Ein breiterer gesellschaftlicher Paradigmenwechsel erfordert auch einen breiten Konsens jenseits von Parteigrenzen über die Notwendigkeit einer Erneuerung – mit sozialdemokratischen sowie liberalen und konservativen Interpretationen eines solchen neuen gemeinsamen Verständnisses.

Die Feststellung, dass der sich abzeichnende Paradigmenwechsel noch lange nicht abgeschlossen ist, bedeutet nicht unbedingt, dass er nicht stattfinden wird. Wie der marktliberale Präzedenzfall gezeigt hat, sind solche Verschiebungen komplexe Prozesse, die sich über einen längeren Zeitraum entwickeln, wobei Krisenmomente oft als Katalysator wirken. Aufgrund seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten und der Entwicklung alternativer Ideen scheint es sehr unwahrscheinlich, dass das marktliberale Paradigma in den kommenden Jahren seine Renaissance erleben wird.

Das Drama unserer Zeit besteht darin, dass es nach dem jahrzehntelangen Scheitern eines überwältigenden Dogmas Zeit braucht, um die Rollen von Märkten und Staaten neu zu formulieren – und um die großen Herausforderungen unserer Zeit – vom Klimawandel bis zur Neudefinition der Globalisierung – wirksam anzugehen. In Zeiten des aufkommenden Populismus und einer tiefgreifenden Vertrauenskrise, die die liberalen Demokratien erschüttert, gibt es nichts Dringenderes, als ein neues und besseres Paradigma aufzubauen und zu verwirklichen.

Wie der italienische Philosoph Antonio Gramsci 1937 feststellte:

"Die alte Welt stirbt, und die neue Welt kämpft darum, geboren zu werden: Jetzt ist die Zeit der Ungeheuer."

Noch besteht die Möglichkeit, den Wettlauf gegen die Zeit zu gewinnen, aber die Zeit läuft ab.

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Nach ein paar Jahrzehnten allzu naiven Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

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