NEUES LEITMOTIV

Rückblick auf Krisen und Ideenwandel 2023 und ein Ausblick auf 2024

Isabella Weber im Video-Talk / Rückblick auf Krisen und Ideenwandel 2023 / Und ein erster Ausblick auf 2024

VON

THOMAS FRICKE

VERÖFFENTLICHT

24. DEZEMBER 2023

Es gibt Krisen, die Wandel und neue Ideen beschleunigen. Und es gibt Krisen, die eher den Reflex auslösen, auf Altbewährtes zu setzen. Das ist auch so, wenn es um Ökonomisches geht. Was in den vergangenen zwei Jahren passiert ist – und vor allem seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine -, schien dabei zunächst eher der zweiten Logik zu folgen. Die Inflation hat Verfechtern alter Strenge neuen Auftrieb gegeben, ebenso wie die jüngste Etatkrise in Deutschland. Trotzdem scheint gerade das Jahr 2023 auch eins, in dem Krisen ebenso dazu beigetragen haben, altes Denken aufzubrechen. Und das dürfte für kaum einen Streit so sehr gelten, wie für das, was Isabella Weber ausgelöst hat mit ihrem Ruf nach Preiskontrollen in Zeiten multipler Krisen – zur Eindämmung der Inflation.

Dabei gab es zunächst vor allem Protest gegen den Versuch, das Ur- und Vollvertrauen in Märkte anzuzweifeln. Mittlerweile wird das, was die Ökonomin da als Ideen entwickelt hat, international ziemlich ernst genommen. Was als tiefere Analyse dahintersteckt, hat Isabella Weber in einem Video-Gespräch zum Jahresende mit uns noch einmal dargelegt – sehenswert. Und allemal brisant:

„Wir sehen historisch von der französischen Revolution bis zum arabischen Frühling, was passiert, wenn die Preise für essenzielle Güter wie Grundnahrungsmittel auf eine Art und Weise steigen, dass die Menschen das Gefühl haben, sich das Nötigste nicht mehr leisten zu können. Dann entwickelt sich das rasch zu einem Zündstoff für politische Umbrüche. Dann bricht ein Teil des Gesellschaftsvertrags.“

Mehr zum Thema gibt es in Kürze zu lesen – in einer Studie, die Isabella Weber mit Tom Krebs dazu verfasst hat, wann und wie es Preiskontrollen geben sollte.

Wie sehr der Inflationsschub 2022 neue Ideen befördert hat, haben Xavier Ragot, Jérôme Creel und Kollegen des Pariser OFCE in einem Paper beschrieben, das sie auf unserem Mai-Workshop in ersten Zügen vorgestellt haben und in Kürze bei uns erscheint: früher galt, dass Inflation ausschließlich durch Notenbanken zu bekämpfen ist; seit 2022 hat sich gezeigt, dass auch Regierungen einen Teil dazu beitragen können – ob über Preisbremsen oder konzertierte Aktionen. Das ist noch so ein Paradigmen-Wandel, der durch die Krise beschleunigt wurde.

Was für die Preisfrage gilt, gilt auch für das Umdenken zum deutschen Exportmodell seit Intensivierung der geopolitischen Spannungen. Seit klar geworden ist, wie geopolitisch naiv die Deutschen lange Zeit auf eine friedliche Globalisierung zählten, gibt es etliche Forschung dazu, wie das Land solche Abhängigkeiten reduzieren kann – de-risking heißt die neue Formel. Wie die aussehen könnte, haben Shahin Vallée und Kollegen auf unserem Mai-Workshop vorgestellt – die fertige Studie folgt in Kürze.

Zum Beispiel für pathologisches Lernen könnte schließlich auch der Jahresend-Streit um Deutschlands Staatsfinanzen und die Schuldenbremse nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts taugen. Während zuerst Rufe nach striktem Kürzen und Sparen kamen, hat der Trubel inzwischen dazu geführt, dass in Deutschland darüber gesprochen wird, wie sich die Schuldenbremse reformieren ließe – damit sie nicht dazu führt, dass wichtige Investitionen etwa in die Rettung des Klimas vor lauter Schuldenpanik ausbleiben. Ein Paradigmenwechsel – und Fortschritt für Deutschland, wo die alte Orthodoxie sich sehr viel länger gehalten hat als irgendwo sonst. Große Frage fürs neue Jahr: wie so eine neue Schuldenbremse aussehen könnte.

*

Zu den Highlights des Forum New Economy zählte indes eine Innovation, die nicht direkt mit den großen globalen Krisen zu tun hat – dafür aber zum besseren Verständnis einer anderen gefährlichen Schieflage beiträgt: jener Vermögens-Simulator, den wir Anfang November vorgestellt haben. Das Modell ermöglicht es jedem zu berechnen, was etwa eine Vermögensteuer oder ein Startkapital für Jüngere an der Verteilung der Vermögen im Land tatsächlich ändern würden. Hauptbotschaft: wer wirklich etwas verschieben will, sollte eher darauf setzen, den Vielen ein Startkapital zu geben, als auf die alleinige Wirkung von Vermögensteuern – auch wenn letztere trotzdem sinnvoll erscheinen.

Zur Vorstellung – hier. Und auf unserer neuen Zweig-Website ReBalance – hier.

Im neuen Jahr geht’s weiter – mit der Suche nach besseren Antworten und einem neuen Paradigma. Und es könnte ein ziemlich entscheidendes werden, an dessen Ende die Antwort auf die Frage steht, ob Joe Biden mit dem, was er als Bidenomics zu etablieren versucht, ein Mittel gefunden hat, die Probleme der Zeit besser anzugehen, und die Leute zugleich davon abzubringen, aus Verzweiflung plumpe Populisten zu wählen. Dazu werden wir uns 2024 immer wieder melden. In Kürze mehr dazu.

Bis dahin schon mal zum Vormerken: Ende Januar diskutieren Bundesbank-Präsident Joachim Nagel und IfW-Chef Moritz Schularick bei uns, wann und wie Notenbanken in Finanzkrisen eingreifen sollten. 30. Januar ab 16.30 Uhr in Berlin-Mitte. Zur Voranmeldung – hier.

Dieser Text stammt aus unserer zweiwöchig erscheinenden Newsletter-Reihe. Zur Anmeldung geht es hier.

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