FINANZWELT
Re-live: Philip Lane zur Inflation
Nach dem Preisschock - Zeit, die Regeln für die Inflationsbekämpfung neu zu schreiben? Darüber haben wir mit Philip Lane bei unserem XII New Paradigm Workshop diskutiert.
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FORUM NEW ECONOMYVERÖFFENTLICHT
9. MAI 2023LESEDAUER
2 MINWer sollte in einem Komitee sitzen, das die Welt vor der Inflation retten soll, und wie sähe das Instrumentarium aus? Mit dieser Frage leitete der Moderator Torsten Riecke (Handelsblatt) eine ausführliche Nachmittagssitzung auf dem XII. New Paradigm Workshop zu einer der drängendsten wirtschaftspolitischen Fragen: Wie kann man mit dem Preisschock umgehen? Der plötzliche Anstieg der Inflation während der Covid- und Energiekrise hat zu zahlreichen unkonventionellen Versuchen geführt, die Preisspirale zu stoppen, darunter Preisobergrenzen, Subventionierung der Energiepreise oder umfassende Programme wie der US Inflation Reduction Act. All dies widerspricht dem seit langem geltenden marktliberalen Paradigma, wonach die Inflation hauptsächlich oder ausschließlich durch die Zentralbanken mit Hilfe ihrer Zinssätze bekämpft wird.
Spricht etwas dafür, dieses Paradigma grundlegend zu ersetzen, zumindest in Fällen von angebotsseitiger Inflation? Wie könnte ein neues Modell der Inflationsbekämpfung aussehen? Welche Rolle sollten die Zentralbanken, Regierungen und andere Akteure (wie die Sozialpartner) in einem solchen neuen Paradigma spielen?
Wir haben dies auf unserem kommenden XII New Paradigm Workshop live und in Farbe mit EZB-Direktoriumsmitglied Philip Lane, Jérôme Creel (OFCE Paris), Isabella Weber (University of Massachusetts Amherst), Kerstin Bernoth (DIW Berlin), Ulrike Malmendier (UC Berkeley/Deutscher Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) und Anatole Kaletsky (Gavekal Dragonomics) diskutiert.
Jérôme Creel eröffnete die Sitzung mit seinem Vortrag über die Frage, ob sich ein neues Paradigma bei der Eindämmung der Inflation herausgebildet hat (dies wird später in diesem Jahr auch ein New Economy Working Paper werden). Entgegen der üblichen Lehrbuchlogik hatte die expansive Fiskalpolitik teilweise disinflationäre Auswirkungen. Entscheidend für die Anpassung der Fiskalpolitik sind die Verteilungseffekte der Geldpolitik, da die Ärmsten nicht nur am stärksten von der Inflation, sondern auch von den durch Disinflation ausgelösten Rezessionen betroffen sind.
Nach dem alten Paradigma sollte die Geldpolitik als einziger Akteur für Preisstabilität sorgen. Dies hat eindeutig nicht sehr gut funktioniert, so dass die Regierungen eingreifen mussten. Nach Ansicht von Creel wird die EZB durch die spezifische Architektur der Eurozone einer unvollständigen Währungsunion eingeschränkt, da sie durch die Auswirkungen höherer Zinssätze auf die Spreads der Staatsanleihen mit einem geldpolitischen Kompromiss konfrontiert ist. Eine zweite Grenze für die Geldpolitik ergibt sich aus dem angebotsseitigen Charakter der Inflation, die durch den Energiepreisschock und nicht in erster Linie durch einen Nachfrageüberhang bedingt ist. Schließlich führt die Ungewissheit über die Steigung der Philips-Kurve zu einer Ungewissheit über die Kosten der Desinflation durch höhere Zinssätze, was die politischen Entscheidungsträger dazu veranlasst, die Zinssätze vorsichtiger einzusetzen. Alles in allem scheinen die Zentralbanken bei der Eindämmung der Inflation an ihre Grenzen zu stoßen, so dass die Regierung eingreifen kann. Da die Fiskalpolitik durch die strengen Regeln des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts eingeschränkt ist, bedeutet dies, dass wir auch über Schuldenregeln sprechen müssen, wenn wir über Inflation sprechen, so Creel.
In seiner Grundsatzrede erläuterte Philip Lane, Mitglied des Direktoriums der EZB, die Position der EZB zur aktuellen Inflation und wie man am besten damit umgeht. Er zeigte auf, dass trotz höherer Zinssätze Konsum und Investitionen nach wie vor im Aufwärtstrend sind. Einer der Gründe dafür ist der andere Ursprung der Inflation in Europa (angebots- und energiegetrieben) als in den Vereinigten Staaten (eher nachfragegetrieben). Er betonte, dass die EZB die Zinssätze nicht deshalb angehoben habe, weil die Inflation in Europa nachfragegetrieben sei, sondern um die Erwartungen im Einklang zu halten, damit die Preis-Lohn-Gewinn-Dynamik die Inflation effizient auf das Ziel zurückführt.
Unabhängig davon, ob die Inflation von der Angebotsseite ausgeht, gibt es immer noch eine Dynamik. Wenn die Kosten steigen, müssen natürlich und zwangsläufig auch die Löhne bis zu einem gewissen Grad steigen. Aber im Gegenzug muss es eine Welle von Preissteigerungen geben, um das wieder auszugleichen. Es gibt also eine Dynamik, um auf den ersten Schock zu reagieren. Der Gedanke ist, dass wir die Zinssätze so festsetzen wollen, dass sich diese Dynamik schnell genug wieder auf 2 % einpendelt und nicht in den Inflationserwartungen verankert wird. Aus diesem Grund haben wir die Zinsen erhöht. Nicht, weil der Ursprung der Inflation auf der Nachfrageseite lag, sondern um sicherzustellen, dass dieser Anpassungsprozess schnell genug zu 2 Prozent zurückkehrt.
Ulrike Malmendier (UC Berkely/Deutscher Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) sah keine Grenzen für die Wirksamkeit der Geldpolitik und betonte, dass die Fiskalpolitik nur mit gezielten Eingriffen funktionieren könne, während eine breitere fiskalische Expansion negative Auswirkungen auf die Inflation haben würde. Auch Kerstin Bernoth (DIW Berlin) vertrat die Ansicht, dass wir kein neues Paradigma brauchen, sondern dass alle unsere Instrumente bereits auf dem Tisch liegen und genutzt werden können. Am wichtigsten sei die fiskalisch-monetäre Koordinierung, da der Geldpolitik die Flexibilität fehle, die die Regierungen angesichts der Energiepreisschocks hätten. Also doch nicht so viel Veränderung?
Isabella Weber (University of Massachusetts Amherst) widersprach, indem sie auf einen alternativen Ansatz hinwies, mit dem sektorale Preisschocks ohne große negative Auswirkungen auf die übrige Wirtschaft bewältigt werden können: die Erweiterung des Instrumentariums, zum Beispiel durch Preisobergrenzen oder die Koordinierung durch Institutionen. Anatole Kaletsky forderte ebenfalls ein neues Paradigma im Kampf gegen die Inflation, da sowohl Inflation als auch Disinflation enorme Verteilungseffekte haben und die Armen am stärksten treffen. Kaletsky zufolge hat das alte Paradigma der Zentralbanken, die für Preisstabilität sorgen, vielleicht nur in einer Ära der strukturellen Disinflation in der Weltwirtschaft funktioniert, die nun zu Ende zu sein scheint.
Ab Mitte der 1980er Jahre erlebten wir 20 bis 30 Jahre lang eine Disinflation in der gesamten Weltwirtschaft, die durch die Globalisierung, den technologischen Wandel, den zunehmenden Wettbewerb mit abnehmender Preissetzungsmacht und - was vielleicht am wichtigsten ist - durch gewaltige politische Veränderungen hervorgerufen wurde, die die strukturelle Einkommensverteilung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen veränderten. Alle diese Veränderungen sind nun rückgängig gemacht worden.
Aufgrund dieser strukturellen Faktoren verglich Kaletsky die Inflation mit einer relativ sicheren Sprengladung, die dann durch den Energieschock gezündet wurde, was zu einer explosiven Inflation führte. Das alte Paradigma, dass sich die Inflation wieder auf das Zielniveau zubewegt, solange die Inflationserwartungen verankert sind, ist also möglicherweise nicht mehr gültig. Unter Hinweis auf politische Fehler in der Vergangenheit argumentierte Isabella Weber in der Diskussion, dass das alte Paradigma in Form von fiskalischer Zurückhaltung in den 2010er Jahren mit Unterinvestitionen in grüne Energie uns heute wie ein Kater zu begleiten scheint.
Ob wir die Zinssätze jetzt anheben, ist ein Teil der Frage. Der zweite Teil ist, ob es in einer Welt der Nullzinsen nicht eine Menge ehrgeiziger, missionsorientierter finanzpolitischer Projekte gegeben hätte. Wir hätten weniger quantitative Lockerung und mehr finanzpolitische Kühnheit gebraucht. Hätten wir den Geist der IRA in den 2010er Jahren gehabt, wären wir vielleicht widerstandsfähiger gegenüber dem Energieschock gewesen.
Nicht nur, aber auch wegen des Versagens der Politik in der Vergangenheit leben wir heute in einer Welt der sich überschneidenden Notlagen. In einer kurzen Sitzung im Anschluss an die Podiumsdiskussion stellte Isabella Weber ihre neue Arbeit (die demnächst als New Economy Working Paper veröffentlicht wird) darüber vor, wann und wie Preiskontrollen eingesetzt werden sollten. Ihre Kernaussage war, dass Preisobergrenzen die ultima ratio sind, um Engpässen in der Lieferkette zu begegnen, und dass sie in Sektoren mit hohem Inflationsrisiko eingesetzt werden sollten, die beispielsweise durch Input-Output-Analysen ermittelt werden können.
Wir brauchen Maßnahmen für die Katastrophenvorsorge. In einer idealen Welt würde es sich dabei nicht um Preisobergrenzen handeln, aber wenn es zu einer akuten Mangelsituation kommt, können sie durchaus ein Mittel der Wahl sein, um Zeit zu gewinnen, um Engpässe in der Lieferkette zu beheben.