CORONA-KRISE

Leopoldina – Corona Pandemie verschärft Handlungsbedarf bei deutscher Wirtschafts- und Sozialpolitik

In ihrer jüngsten Stellungnahme analysieren die Wissenschaftler die coronabedingte wirtschafts- und sozialpolitische Situation und legen einen möglichen Weg aus der Krise dar.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

22. JULI 2021

LESEDAUER

6 MIN

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat einen neuen Bericht zu den ökonomischen Konsequenzen der Corona-Pandemie veröffentlicht. Sie diskutiert dabei durch die Krise verschärfte und neu heraufbeschworene gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen. Hinzu kommen der bereits vor der Pandemie präsente Strukturwandel und ein im Zuge des European Green Deal ambitioniert gefasster Plan zur Verringerung von Treibhausgasemissionen hin zur Klimaneutralität.

Vor dem Hintergrund der vielzähligen Impulse legen die Wissenschaftler*innen daher in vier breit gefächerten Themenbereichen Handlungsoptionen für die Politik vor: Strukturwandel und Voraussetzungen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum; Ungleichheit und Verteilung; Leistungsfähigkeit staatlicher Organisationen auf nationaler wie internationaler Ebene sowie Tragfähigkeit der Staatsfinanzen.

Wir haben die Kernaussagen zusammengefasst.

Krisen treten selten als sozial neutrale Ereignisse auf. Auch die Corona Krise erfordert eine gezielte Diskussion der vielschichtigen mittel- und langfristigen Folgen der Pandemie für die Verteilung von Wohlstand und sozialer Ungleichheit. So befürchten die Wissenschaftler*innen der Leopoldina eine durch die Pandemie bedingte Verschärfung der Einkommens-Ungleichheit in Deutschland. Während die sozialen Sicherungssysteme in der Pandemie weitgehend gut funktioniert hätten, sei langfristig mit erheblichen Auswirkungen auf die Höhe und Verteilung der Einkommen zu rechnen. Insbesondere auch aus diesem Grund fordern die Forschenden konkrete Handlungen im Bereich der schulischen Bildung, da Bildungsverluste während der Krise das Einkommenspotenzial der jungen Generation zu mindern und – durch die stärkere Beeinträchtigung von Schüler*innen aus benachteiligten Familien – die Chancengerechtigkeit zu verringern drohen.

In der Krise wurde laut der Expert*innen der Nationalen Akademie der Wissenschaften zudem deutlich denn je, „wie sehr Wirtschaft und Gesellschaft auf die Leistungsfähigkeit des Staates angewiesen sind“. Der Staat sei in einigen Bereichen – etwa bei medizinischem Material – in der Verantwortung, die Versorgungssicherheit der Bevölkerung durch staatliches Eingreifen sicherzustellen, ebenso wie bei der Förderung privater Innovationsanstrengungen und des Wissenstransfers. Um die staatliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, empfiehlt die Leopoldina nach dem Abklingen der Krise eine unabhängige regierungsferne Kommission einzusetzen – auch um bestehende Defizite aufzuarbeiten.

Durch die Pandemie sind die Defizite in den öffentlichen Haushalten und die Staatsverschuldung angewachsen. Die Schuldenquote ist dabei ähnlich stark gestiegen wie zu Zeiten der Finanzkrise in den Jahren 2008/09. Vor dem Hintergrund des historisch niedrigen Zinsniveaus empfehlen die Wissenschaftler*innen zur weiteren Abschwächung der negativen Folgen der Pandemie auf die Wirtschaft dennoch steuerliche Anreize für Investitionen sowie Steuererleichterungen für Unternehmen. Dabei gelte es, die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen auf nationaler und europäischer Ebene zu erhalten und zu stärken, um im Falle einer erneuten großen Krise mit ausreichend Handlungsspielraum ausgestattet zu sein. Die Arbeitsgruppe empfiehlt, Reformoptionen im Zusammenhang nationaler und europäischer Schuldenregeln einerseits und staatlicher Investitionsaktivität andererseits abzuwägen.

In der Krise wurden durch Notfallklauseln die Schuldenbremse und die europäischen Fiskalregeln ausgesetzt, um eine ausreichende fiskalische Stabilisierungspolitik zu gewährleisten. Für die Zukunft bleibt offen, wann die Berufung auf die Notfallklauseln beendet und somit mit einer Rückkehr zum Normalfall der Schuldenbremse zu rechnen ist, und ob eine solche Rückkehr als sinnvoll erachtet werden kann.

Laut Leopoldina sei von einer zu frühen Beendigung der Notfallklausel der Schuldenbremse abzusehen, da so die Stützung der Wirtschaft gefährdet und der einsetzende Aufschwung behindert werden könnte. Vielmehr sollte die Schuldenbremse so modifiziert werden, dass sie „eine Schuldenfinanzierung von staatlichen Nettoinvestitionen (Bruttoinvestitionen minus Abschreibungen) zulässt“ (Goldene Regel). „Eine gut funktionierende Goldene Regel […] müsste […] überzeugend an die Einrichtung von angemessenen Governance-Strukturen gekoppelt werden, z.B. durch die Zertifizierung von öffentlichen Investitionen durch ein unabhängiges Expertengremium oder durch die Einrichtung von Investitionsfördergesellschaften, die Ansprüche auf gleichbleibende Mittelzuweisungen aus den öffentlichen Haushalten haben“, so die Wissenschaftler*innen in der Stellungnahme. Das vornehmliche Ziel: verbesserte Anreize für Zukunftsinvestitionen zu schaffen. Nicht zuletzt hänge die Rückkehr zur normalen Anwendung der Schuldenbremse auch davon ab, wie schnell und mit welchem Erfolg die Wirtschaft sich nach der Krise erholt.

Und auf europäischer Ebene? Aktuell sind die Fiskalregeln dort ebenfalls ausgesetzt, eine Fortsetzung dieser Aussetzung wird auch für 2022 erwartet. Laut Leopoldina stellt sich die grundsätzliche Frage, inwiefern die Maastricht-Vorgabe einer Schuldenquote von maximal 60 Prozent des BIP sowie die Richtlinien zum Schuldenabbau noch zeitgemäß sind, da in einem anderen makroökonomischen Umfeld begründet. Den Forschenden zufolge spräche viel dafür, bei Reformdiskussionen nach der Krise das Setzen realistischer Fiskalregeln mit verbesserten Anreizen zur Überwindung von strukturellen Schwächen in den Fokus zu rücken.

Fazit

Die Corona Pandemie stellt die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik zukünftig vor neuartige Herausforderungen und hat bereits bestehenden Handlungsbedarf insbesondere im Hinblick auf soziale Ungleichheit und staatliche Fiskalpolitik weiter verstärkt. Doch bietet die Pandemie den Expert*innen zufolge nicht nur Herausforderungen, sondern auch Chancen. „Die Pandemie kann zur Chance für eine gesellschaftlich breit getragene Modernisierungsinitiative werden, gerade im Bereich staatlichen Handelns“, so die Vizepräsidentin der Leopoldina, Regina T. Riphahn. Eine Chance somit auch für neue Gedanken, die in der Wirtschaft und gesamtgesellschaftlich auf fruchtbaren Boden fallen könnten.

Den vollständigen Bericht gibt es hier.

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