NEUES LEITMOTIV

Die New Paradigm Papers des Monats Oktober

Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.

VON

MAREN BUCHHOLTZ

VERÖFFENTLICHT

17. OKTOBER 2022

LESEDAUER

8 MIN.

Does collective bargaining reduce health inequalities between labour market insiders and outsiders?

Laura Sochas and Aaron Reeves

Auf der Grundlage von Arbeitsmarktdaten aus über 30 OECD-Ländern aus den letzten vier Jahrzehnten kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass eine höhere Tarifdeckung die Gesundheit und Lebenszufriedenheit sowohl von Vollzeit-Beschäftigten als auch von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten verbessert. Während des untersuchten Zeitraums (1981-2018) wurden in den meisten OECD-Ländern die Arbeitsmärkte dereguliert, was zu einer Dualisierung zwischen sicheren Arbeitsplätzen mit Beschäftigungsschutz und arbeitsbezogenen Leistungen und weniger sicheren Arbeitsplätzen (u.a. befristete oder Teilzeit-Beschäftigung) führte. Die Autoren stellen fest, dass der Anteil der Arbeitskräfte, die unter einen Tarifvertrag fallen, positiv mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung korreliert. Der Effekt ist bei Nicht- oder Unterbeschäftigten höher. Dies liegt daran, dass ein höherer gewerkschaftlicher Organisationsgrad in der Regel mit mehr Arbeitnehmerschutz (einschließlich Arbeitslosenversicherung oder aktiver Arbeitsmarktpolitik) einher geht, welcher überproportional stark den prekär Beschäftigten zugute kommt und damit die negativen Auswirkungen der Dualisierung abfedert.

Global carbon inequality over 1990-2019

Lucas Chancel

Diese jüngste Veröffentlichung liefert empirische Belege für den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Ungleichheit und Klimawandel anhand neuer Daten aus der World Inequality Database und aus Input-Output-Modellen zu Treibhausgasemissionen. Chancel zeigt, dass fast die Hälfte der weltweiten Treibhausgasemissionen in den letzten dreißig Jahren von den obersten 10 % der Wohlhabenden verursacht wurde, während die untere Hälfte der Weltbevölkerung nur für etwa 12 % der Emissionen verantwortlich ist. Die Ungleichheit der Emissionen ist ein globales Phänomen. Die obersten 10 % der wohlhabendsten Nordamerikaner produzieren etwa 70 Tonnen Kohlenstoffdioxid-Äquivalent (tCO2e) pro Kopf, etwa siebenmal mehr als die ärmste Hälfte der Bevölkerung. Dies steht im Gegensatz zum europäischen Kontinent, wo die Reichsten etwa 30 tCO2e emittieren, die oberen 40 % 10 tCO2e und die untere Hälfte 5 tCO2e. In anderen Regionen wie Nahost und Nordafrika (MENA) sowie Russland und Zentralasien nimmt die Verteilung der gesellschaftlichen Emissionen ähnliche Formen an. In Lateinamerika, Süd- und Südostasien sowie in Sub-Sahara Afrika ist die Ungleichheit der Emissionen sogar noch ausgeprägter, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau.

Diese neuen Daten lassen gewisse Rückschlüsse auf die bisherige Klimapolitik der letzten dreißig Jahre zu: Während die Haushalte der Unter- und Mittelschicht in den reichen Ländern scheinbar Fortschritte bei der Verringerung ihres Kohlenstoff-Fußabdrucks erreicht haben, ist das oberste 1 % für mehr als ein Fünftel des Anstiegs an Emissionen verantwortlich. Im Vergleich dazu scheint das Wirtschaftswachstum der Schwellenländer eine geringere Auswirkung gehabt zu haben, da dieser (nur) etwa 16 % des Emissionsanstiegs zwischen 1990 und 2019 verursacht hat. Insgesamt scheinen die Unterschiede in den Verbräuchen innerhalb der Länder im Vergleich zu den Unterschieden zwischen den Ländern zugenommen zu haben. Dies bedeutet, dass die privaten Konsum- und Investitionsentscheidungen der weltweit reichsten 1 % der Bevölkerung in den nächsten Jahren maßgeblich beeinflusst, ob die globale Erwärmung unter dem kritischen Niveau bleiben wird. Für Regierungen auf der ganzen Welt stellt dies die schwierige Herausforderung dar, wirtschaftliche Ungleichheit und Klimawandel gleichzeitig zu bekämpfen. Zu diesem Zweck schlägt Chancel mehrere fiskalische Instrumente wie progressive Kohlenstoffsteuern und neue Steuern auf kohlenstoffintensive Investitionen vor.

"Es hat sich gezeigt, dass CO2-Steuern einkommensschwache und emissionsarme Gruppen unverhältnismäßig stark belasten, während das Preissignal für hohe und wohlhabende Emittenten möglicherweise zu gering ist, um Änderungen im Konsum- (oder Investitions-) Verhalten wohlhabender Personen zu erzwingen."
Lucas Chancel

Die Studie liefert Denkanstöße für einen Paradigmenwechsel in der Klimapolitik. Weitere Forschung zur Emissionsungleichheit könnte dazu beitragen, dass sozioökonomische Faktoren besser bei der konkreten Ausgestaltung klimapolitischer Maßnahmen berücksichtigt werden, beispielsweise indem die unverhältnismäßig hohe CO2-Bilanz der Wohlhabenden berücksichtigt und die Verlierer des grünen Wandels stärker entlastet werden. In Anbetracht der Tatsache, dass das Pariser Abkommen eine Reduktion auf ca. zwei tCO2e pro Kopf bis 2050 erfordert (d. h. einem Drittel des derzeitigen weltweiten Durchschnitts), scheint die Klimapolitik noch einen langen Weg vor sich zu haben.

The Security–Sustainability Nexus: Lithium Onshoring in the Global North

Theo Riofrancos

In dieser Publikation wird die Rolle von Lithium bei der globalen Umstellung auf erneuerbare Energien aus Sicht der politischen Ökonomie untersucht. Die entscheidende Bedeutung von Lithium für den Energie- und Verkehrssektor und die steigende Nachfrage nach diesem Mineral hat einen regelrechten „Lithium-Goldrausch“ in Gang gesetzt. Die USA und die EU ergreifen zunehmend Maßnahmen zur Erschließung heimischer Vorkommen, um ihre Importabhängigkeit zu verringern. Gleichzeitig versucht die EU durch die Ausarbeitung neuer Vorschriften, die höhere Umweltstandards für Rohstoffe und Batterien vorschreiben, die Industrie in Richtung einer Kreislaufwirtschaft mit besser vorhersehbaren Lieferketten zu lenken. 

"Nachhaltigkeit, einst das Mantra naturverbundener Utopisten, ist heute eine wichtige Quelle der Rentabilität und ein strategisches Bollwerk gegen geoökonomische Bedrohungen".
Thea Riofrancos

Im Rahmen der grünen Industriepolitik verfolgt der globale Norden ein neues Handelsparadigma, das die Belange der nationalen Sicherheit, widerstandsfähiger Lieferketten und der Klimapolitik miteinander verbindet: den „Sicherheits-Nachhaltigkeits-Nexus“ (“security-sustainability nexus”). Die zunehmende (Rück-)verlagerung kritischer Güter ist beispielhaft für diese Entwicklung. In mehr als 100 Interviews mit Regierungsvertretern in den USA und der EU, Unternehmensmitarbeitern, Investoren, indigenen Völkern und Umweltaktivisten stellt Thea Riofrancos fest, dass dieses potenzielle neue Handelsparadigma in den letzten zehn Jahren im gesamten ideologischen Spektrum des Westens an Zugkraft gewonnen hat.

„Die sich abzeichnende Karte und das schiere Volumen der planetarischen Extraktion werden den ungleichen ökologischen Austausch auf mehreren Ebenen intensivieren: innerhalb der Länder des Globalen Nordens, wo politische Entscheidungsträger versuchen, die inländische Extraktion auszuweiten; zwischen dem Globalen Norden und dem Süden; und in Gebieten, die sich einer einfachen Klassifizierung in eine der beiden supranationalen Kategorien entziehen, wie etwa zwischen Chinas Hinterland und seinen Industriezentren oder zwischen China und Ländern mit niedrigem Einkommen. Diese Entwicklungen erfordern eine interdisziplinäre Forschungsagenda zu den entstehenden Geografien, Geopolitiken und der politischen Ökonomie der Energiewende.“ 

Rethinking Monetary Sovereignty: The Global Credit Money System and the State

Steffen Murau and Jens van ’t Klooster

Murau und Van’t Klooster entwickeln das Konzept der „effektiven monetären Souveränität“, um die zunehmende Rolle eines weitgehend unregulierten Geldsystems zu erklären. Aufbauend auf der IPE-Literatur von Wissenschaftlern wie Adam Tooze, Daniela Gabor, Benjamin Braun und anderen stellt dieses aktuelle Papier die gängige Sichtweise der öffentlichen Geldschöpfung in Frage, nach der die Zentralbanken als einzige bzw. wesentliche Instanzen der Geldschöpfung fungieren. Die Autoren legen dar, dass das „westfälische“ Konzept der globalen Kreditsteuerung aufgrund der finanziellen Globalisierung in der Realität nicht mehr gilt. Sie argumentieren, dass das Ausmaß, in dem die Zentralbanken die Kontrolle über ihre Währung verloren haben, in den meisten Wirtschaftstheorien und prominenten theoretischen Modellen wie dem Mundell-Fleming-Modell der Wechselkurse nicht berücksichtigt wird. Stattdessen entwerfen sie eine neue Vorstellung der geldpolitischen Steuerung, die drei Dimensionen umfasst: die Kontrolle des öffentlichen Geldes (d. h. der Zentralbanknoten oder -reserven), die Regulierung des öffentlich-privaten Geldes (d. h. Kredite der Geschäftsbanken, wobei sich der „öffentliche“ Charakter auf die Wirkung des offiziellen Zinssatzes und der makroprudenziellen Regulierung bezieht) und die Steuerung des „vollständig“ privaten Geldes (d. h. nicht oder nur wenig reguliertes Geld, Schattenbanken, Offshore-Konten usw.).

"Offshore-Geld stellt eine große Herausforderung für die Fähigkeit der Staaten dar, ihre wirtschaftspolitischen Ziele zu erreichen".
Murau und Van't Klooster

Das Konzept der „effektiven monetären Souveränität“ erweitert den Blick auf das globale Währungssystem und die diesbezügliche Rolle des Staates. In seinem Artikel in der Financial Times über das Papier bezeichnet Brendan Greeley die Zentralbanken allegorisch als „(…) Währungshirten, die die Banken hin und her treiben“. Unter dem Blickwinkel der „effektiven monetären Souveränität“ könnten digitale Zentralbankwährungen (CBDCs) als Gegenmaßnahme dienen, um private Kryptowährungen zu verdrängen und diesen äußerst volatilen Markt zu stabilisieren.

Diese Konzeption des globalen Kreditsystems unterstreicht auch die Bedeutung einer besseren regulatorischen Koordination in internationalen Gremien wie dem Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, dem Financial Stability Board oder der G20. Ein konkretes Beispiel für „effektive geldpolitische Souveränität“ sind neue unkonventionelle geldpolitische Instrumente wie Cross-Currency-Swaps. In Zeiten von Spannungen auf den globalen Finanzmärkten stellten die US-Notenbank und die EZB diese Geschäfte für auf USD oder EUR lautende Offshore-Kredite bereit und ermöglichen es damit anderen Zentralbanken, öffentliches Geld in einer ausländischen Rechnungseinheit zu schaffen.

"Die funktionale Rolle von US-Staatsschulden als Währungsreserven und Sicherheiten für den privaten Sektor ermöglicht es den Vereinigten Staaten, historisch beispiellose Schuldenniveaus zu viel niedrigeren Zinsen zu finanzieren. Während das bestehende Währungssystem es den Vereinigten Staaten ermöglicht, eine Reihe von wirtschaftspolitischen Zielen zu erreichen, gilt dies nicht für Bangladesch. Aus 'westfälischer Sicht' sind jedoch beide Staaten gleichermaßen souverän".
Murau und Van 't Klooster

Dieser Aspekt ist das Thema eines weiteren interessanten Papiers: „International financial subordination: a critical research agenda“ von Ilias Alami, Carolina Alves, Bruno Bonizzi, Annina Kaltenbrunner, Kai Koddenbrock, Ingrid Kvangraven und Jeff Powell, veröffentlicht in der Review of International Political Economy.

 

Do higher public debt levels reduce economic growth?

Philipp Heimberger

In einer kürzlich veröffentlichten Arbeit stellt Philipp Heimberger fest, dass die empirische Literatur dies nicht abschließend beantworten kann. Aufgrund der Annahme, dass schuldenfinanzierte Staatsausgaben langfristig die Aktivitäten des Privatsektors verdrängen, geht die neoklassische Theorie tendenziell von einem negativen Zusammenhang zwischen der Staatsverschuldung gemessen am Bruttoinlandsprodukt (Schuldenquote) und dem Wirtschaftswachstum aus. Nach der globalen Finanzkrise und während der europäischen Staatsschuldenkrise gewann diese Diskussion an Schwung. Viele bekannte empirische Studien stützen die These eines negativen Zusammenhangs zwischen Staatsverschuldung und Wachstum. Einige Arbeiten beschäftigen sich mit sogenannten Verschuldungsgrenzen, d.h. Schuldenquoten, ab deren Überschreitung ein langsameres Wirtschaftswachstum zu erwarten ist. In dieser Literatur sei das mögliche Auftreten von Endogenität bisher zu wenig beachtet worden, argumentiert Heimberger. Seine Meta-Regression, in die Ergebnisse aus 47 Studien eingeflossen sind, stellt den Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und Wachstum in Frage. Laut Heimberger verzerrt bei dieser Literatur ein Publication-Bias die Aussagekraft der empirischen Ergebnisse. Es sei daher davon abzuraten, bestimmte Schuldengrenzen als gegeben und universal gültig zu betrachten.

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Nach ein paar Jahrzehnten allzu naiven Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

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