NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats März
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten vor, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
1. MÄRZ 2024LESEDAUER
4 MINNach dem Neoliberalismus: Wirtschaftstheorie und -politik in der Polykrise
Michael Jacobs
Die gängige Wirtschaftstheorie und -politik steht vor großen Herausforderungen, wenn es darum geht, die verschiedenen Wirtschaftskrisen zu bewältigen, die seit 2008 aufgetreten sind: der globale Finanzcrash, Austeritätspolitik, stagnierende Produktivität und Löhne, wachsende Ungleichheit, Inflation sowie Klima- und Umweltzerstörung. Die vorliegende Studie geht davon aus, dass diese Unzulänglichkeiten in dem der neoklassischen Wirtschaftstheorie innewohnenden Prinzip des „ontologischen Individualismus“ ausgehen, das einzelne Haushalte und Unternehmen als souveräne Einheiten behandelt. Michael Jacobs plädiert daher für eine Hinwendung zum „ontologischen Institutionismus“, dessen Grundannahme ist, dass wirtschaftliches Verhalten vor allem durch institutionelle Strukturen und Regeln bestimmt wird. Im Gegensatz zur neoklassischen Ökonomie ist diese Sichtweise auch in anderen Sozialwissenschaften verbreitet und verändert ökonomische Analysen und Politikempfehlungen erheblich. Unter Betonung eines expliziten ethischen Rahmens für die Definition politischer Ziele schlägt die Studie einen „institutionell pluralistischen“ Ansatz vor. Jacobs argumentiert, dass Wirtschaftspolitik als ein Prozess der institutionellen Gestaltung und nicht nur als ein Streben nach Markteffizienz betrachtet werden sollte.
Soziale Mobilität in Deutschland
Majed Dodin, Sebastian Findeisen, Lukas Henkel, Dominik Sachs & Paul Schüle
Deutschland gilt als eines der OECD-Länder mit der geringsten sozialen Mobilität. Eine neue Studie von Majed Dodin et al. liefert nun Belege dafür, dass das Einkommen der Eltern ein entscheidender Faktor für den Bildungserfolg der Kinder ist. Die Autoren charakterisieren die intergenerationale Mobilität in Deutschland anhand von Volkszählungsdaten zum Bildungsstand und Einkommen der Eltern von 526.000 Kindern. In Anlehnung an das deutsche Tracking-System in der Sekundarstufe verwenden die Autoren als Maß für die Chancengleichheit das Abitur. Ein Anstieg des elterlichen Einkommens um 10 Prozentpunkte ist mit einem Anstieg des Abiturientenanteils um 5,2 Prozentpunkte verbunden. Dieser Abstand ist für die Geburtskohorten 1980-1996 trotz des massiven Ausbaus der Sekundarstufe II unverändert geblieben. Der Anteil der Kinder mit Abitur steigt linear mit der Einkommensklasse ihrer Eltern. 25% der Kinder am unteren Ende der Einkommensverteilung machen einen Abschluss. Am oberen Ende sind es 80%. Im Durchschnitt ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit gebildeten Eltern am unteren Ende der Einkommensverteilung einen Schulabschluss erreicht, genauso hoch wie bei einem Kind am oberen Ende der Einkommensverteilung ohne gebildete Eltern.
Wellbeing, Erwartungen und Arbeitslosigkeit in Europa
David G. Blanchflower, Alex Bryson
In der vorliegenden Studie analysieren die Autoren, wie stark Erwartungen im Vergleich zu traditionellen Maßen des Wohlbefindens auf Veränderungen des Wirtschaftswachstums reagieren. Sie analysieren Eurobarometer-Mikrodaten von 1973 bis 2023 und konzentrieren sich dabei auf Veränderungen in der Lebenszufriedenheit und in den Erwartungen bezüglich der finanziellen und beruflichen Situation von Individuen sowie deren Erwartungen bezüglich der Wirtschafts- und Beschäftigungssituation ihres Landes im kommenden Jahr. Diese Erwartungen beginnen bereits einige Monate vor einem wirtschaftlichen Abschwung zu sinken, insbesondere während großer Ereignisse wie der Großen Rezession und der Covid-Pandemie. Zwischen dem jährlichen BIP-Wachstum und den Erwartungsvariablen besteht ein positiver Zusammenhang, während das BIP-Wachstum nicht signifikant mit der Lebenszufriedenheit korreliert. Darüber hinaus haben sowohl die Arbeitslosenquote als auch der Verbraucherpreisindex (CPI) einen negativen Einfluss auf die Erwartungen und die Lebenszufriedenheit.
Wirtschaftliche Schocks und die Entwicklung der Einstellung zur Zuwanderung
Dillon Laaker
In diesem Beitrag argumentiert Dillon Laaker, dass das Aufwachsen in einer Rezession zu einem dauerhaften Anstieg einwanderungsfeindlicher Einstellungen führt. Er beschreibt zwei Mechanismen, die die negativen Auswirkungen von Rezessionen auf junge Arbeitnehmer und das einwanderungsfeindliche Narrativ hervorheben, das häufig während wirtschaftlicher Turbulenzen auftritt. Junge Erwachsene sind besonders anfällig für solche externen Schocks, da sie über wenig politische Erfahrung verfügen und sich ihre politischen Grundhaltungen noch entwickeln. Dieses Argument wird durch Daten aus der Europäischen Sozialerhebung gestützt. Ein ökonomischer Schock im jungen Erwachsenenalter führt zu einem signifikanten Anstieg einwanderungsfeindlicher Einstellungen, ein Zusammenhang, der für andere Altersgruppen nicht gefunden wurde. Der Autor findet erste Hinweise darauf, dass das Aufwachsen in einer Rezession eine stärkere Neigung dazu, einwanderungsfeindlichen Narrativen zu verfallen, hervorrufen kann. Die Ergebnisse veranschaulichen, wie Wirtschaftskrisen die Sozialisation junger Erwachsener beeinflussen und unterstreichen ihre langfristigen politischen Auswirkungen.
Die Analyse klimapolitischer Narrative mit dem Charakter-Rollen-Narrativrahmen
Kai Gehring, Matteo Grigoletto
Das Verständnis der Verhaltensdynamik kollektiver Entscheidungsprozesse stellt eine große Herausforderung für die Wirtschaftswissenschaften dar, wobei Narrative einen zentralen gruppenbasierten Mechanismus darstellen, der menschliche Entscheidungen beeinflusst. In dieser Studie wird das Character-Role Narrative Framework als systematisches Instrument zur Analyse von Narrativen eingeführt und auf den US-amerikanischen Klimawandel-Diskurs auf Twitter von 2010 bis 2021 angewendet. Ausgehend vom Konzept des Drama-Dreiecks, das besagt, dass Narrative typischerweise um Charaktere kreisen, die eine der drei Hauptrollen – Held, Bösewicht und Opfer – einnehmen, zeigen die Autoren, wie dieser intuitive Rahmen nahtlos in eine empirische Pipeline integriert und für die Analyse großer Textdatensätze mit überwachten maschinellen Lernverfahren erweitert werden kann. In ihrer Untersuchung von Narrativen zur US-Klimapolitik beobachten sie deutliche Verschiebungen in der Prävalenz von einfachen und komplexen Charakter-Rollen-Narrativen über die Zeit. Sie stellen fest, dass Narrative mit einfachen Darstellungen menschlicher Charaktere, die insbesondere Bösewichte in den Mittelpunkt stellen, tendenziell eine höhere Viralität aufweisen. Am Beispiel von Donald Trump als populistischem Führer zeigen die Autoren, dass Populismus mit einer höheren Prävalenz dieser einfachen, menschenzentrierten und bösewichtorientierten Erzählungen korreliert.