NEUES LEITMOTIV

Die New Paradigm Papers des Monats August

Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

4. AUGUST 2023

LESEDAUER

5 MIN

Die neue Ökonomie der Industriepolitik

von Réka Juhász, Nathan Lane, und Dani Rodrik

DIE GANZE STUDIE.

In der Vergangenheit stand die Mainstream-Ökonomie der Industriepolitik kritisch gegenüber. Trotz dieser Ablehnung durch die Ökonomen haben Regierungen die Industriepolitik weiterhin eingesetzt, um verschiedenste Herausforderungen – von Klimakrise über widerstandsfähige Lieferketten bis hin zur Schaffung von Arbeitsplätzen – anzugehen. In einer kürzlich erschienenen Studie diskutiert ein Team um den Harvard-Ökonomen Dani Rodrik neue Forschungsergebnisse, die zeigen, dass die meisten Argumente gegen Industriepolitik nicht mehr stichhaltig sind. Diese neue Generation von Forschungsarbeiten konzentriert sich auf die Frage, ob Industriepolitik in bestimmten Situationen die gewünschten Ergebnisse erzielt. Zu den untersuchten Fällen gehören die Unterstützung junger Industrien, öffentliche F&E-Anstrengungen und standortbezogene Maßnahmen, die auf bestimmte Industrien abzielen. Interessant ist, dass neuere Arbeiten mit verbesserten Identifizierungsmethoden tendenziell zu positiveren Einschätzungen der Wirkung der Industriepolitik kommen. Abschließend diskutieren die Autoren, wie der wirtschaftliche Kontext die traditionellen Vorstellungen von Industriepolitik verändert. Sie weisen darauf hin, dass eine erfolgreiche Industriepolitik die Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Unternehmen sowie eine breitere Palette von Maßnahmen jenseits von Subventionen erfordert. Da sich durch die Deindustrialisierung der Fokus zusehends auf den Dienstleistungssektor verlagert, muss sich die Industriepolitik anpassen, um Produktivität und Beschäftigung im Dienstleistungssektor zu fördern.

Die wirtschaftspolitische Steuerung der EU zweckmäßig gestalten: Investitionen in die Zukunft und Reform der Finanzvorschriften bei gleichzeitiger Dezentralisierung und Demokratisierung

von Vivien A. Schmidt

DIE GANZE STUDIE.

Im letzten Jahrzehnt hat sich die EU als Reaktion auf die Krise im Euroraum auf den Abbau von Defiziten und Schulden konzentriert. Mehrere nachfolgende Krisen haben jedoch zu einer Neubewertung der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU geführt. Nun steht die EU vor einer entscheidenden Frage: Wird sie zu den alten fiskalpolitischen Regeln zurückkehren oder diese grundlegend reformieren? Diese Entscheidung wird sich nicht nur auf den wirtschaftlichen Kurs der EU auswirken, sondern auch auf ihre politische Zukunft, wie Vivien A. Schmidt von der Boston University in einem kürzlich erschienenen Policy Paper schreibt. Schmidt plädiert für eine dauerhafte EU-Schuldenfazilität und Haushaltsregeln, die Investitionen Vorrang vor Schuldenabbau einräumen. Sie betont, wie wichtig es sei, gemeinsame Lösungen zu finden und die Interdependenz der EU-Volkswirtschaften anzuerkennen, um die existenziellen Herausforderungen der Union zu bewältigen und gleichzeitig dem Aufstieg des populistischen Extremismus entgegenzuwirken.

Die Auswirkung des Sozialversicherungsvermögens auf die Verteilung des Wohlstands in der Europäischen Union

von Marcin Wroński

DIE GANZE STUDIE.

Der anhaltende demographische Wandel in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften bedeutet, dass staatliche Rentensysteme immer wichtiger werden. In einem neuen Arbeitspapier der World Inequality Database untersucht Marcin Wroński, wie staatliche Rentenansprüche die Vermögensungleichheit unter Rentnerinnen und Rentnern beeinflussen. Unter Verwendung einer neuen Datenquelle, dem Eurosystem Household Finance and Consumption Survey, vergleicht die Studie die Auswirkungen staatlicher Rentensysteme auf die Vermögensungleichheit in 19 europäischen Ländern. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Wohlfahrt der Sozialversicherung die Vermögensungleichheit unter Rentnerinnen und Rentnern deutlich reduziert. Tatsächlich ist die Zunahme der Vermögensungleichheit im Vergleich zur privaten Vermögensungleichheit um etwa 30% geringer. Diese Verringerung gilt insbesondere für die Gruppe der Rentnerinnen und Rentnern, während die ausgleichende Wirkung der staatlichen Rentensysteme für die Gesamtbevölkerung geringer ausfallen dürfte. Darüber hinaus verringert das Wohlfahrtssystem die Vermögensungleichheit nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch in der Europäischen Union insgesamt.

Next generation EU und die Zukunft der wirtschaftspolitischen Steuerung: ein Paradigmenwechsel oder nur eine große einmalige Sache?

von Marco Buti & Sergio Fabbrini

DIE GANZE STUDIE.

Das Programm „Next Generation EU“ (NGEU) der Europäischen Union, das zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie für die Jahre 2021 bis 2026 aufgelegt wurde, stellt eine deutliche Abkehr von früheren Reaktionen der EU auf Wirtschaftskrisen dar. Ist dies ein Zeichen für einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in der EU-Wirtschaftspolitik oder nur ein einmaliges Ereignis? Dieser Frage geht ein kürzlich veröffentlichtes Policy Paper von Marco Buti & Sergio Fabbrini nach. Die Autoren identifizieren drei Dilemmata, die darüber entscheiden, ob die Abkehr der NGEU von der bisherigen Reaktion auf die Staatsschuldenkrise Anfang der 2010er Jahre den Beginn eines neuen Paradigmas markiert. Das erste Dilemma betrifft die Betonung der supranationalen EU-Institutionen, das zweite die Förderung eines neuen fiskalpolitischen Mix und das dritte die Umsetzung nationaler Reformen, die trotz nationaler Wahlzyklen mit den EU-Zielen übereinstimmen. Das Papier bewertet mögliche Lösungen für diese Dilemmata anhand des „Monnet-Kompatibilitätstests“ (MCT), der die Kohärenz zwischen institutionellen, ökonomischen und politischen Aspekten der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung bewertet.

Getrennte Pole? Alternative Wohlfahrtspfade im finanzgetriebenen Kapitalismus

von Fabrizio Antenucci, Walter Paternesi Meloni & Pasquale Tridico

DIE GANZE STUDIE.

Wie haben Länder mit hohem Einkommen auf die zunehmende Finanzialisierung der Wirtschaft im Rahmen des Marktliberalismus reagiert? Haben sie ihre Wohlfahrtssysteme ausgebaut, beibehalten oder abgebaut? Ein aktueller Beitrag von Fabrizio Antenucci, Walter Paternesi Meloni & Pasquale Tridico geht dieser Frage nach, indem er einen umfassenden Index zur Bewertung des Wohlfahrtsniveaus von 32 OECD-Ländern im Zeitraum 1990 bis 2015 einführt und diesen mit bestehenden sozioökonomischen Modellen und Finanzialisierungsmustern vergleicht. Die Studie zeigt zwei unterschiedliche Pfade auf: Skandinavische und kontinentaleuropäische Länder weisen einen Anstieg des Wohlstands auf, während angelsächsische, asiatische, mediterrane sowie mittel- und osteuropäische Länder einen Rückgang des Wohlstands verzeichnen. Interessanterweise stellt die Studie fest, dass Länder mit stärkeren Wohlfahrtssystemen eine stärkere Finanzialisierung erfahren haben, was auf eine Kompensationsstrategie hindeutet. Insgesamt unterstreicht die Studie die Bedeutung von Politik und Institutionen bei der Gestaltung unterschiedlicher Wohlfahrtssysteme und bei der Bewältigung der Herausforderungen, die sich in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus stellen.

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Nach ein paar Jahrzehnten allzu naivem Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

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