NEUES LEITMOTIV

Diskussion über 'Economics in America' mit Angus Deaton: Die Grenzen der Effizienz

Viele Menschen haben heute den Glauben an den Kapitalismus verloren, ebenso wie jegliches Vertrauen in die als seine Apologeten angesehenen Ökonomen. Hat die Ökonomik eine falsche Richtung eingeschlagen? Darüber diskutierten wir in unserem letzten Short Cut mit Nobelpreisträger Angus Deaton und RWI-Präsident Christoph M. Schmidt.

VON

DAVID KLÄFFLING

VERÖFFENTLICHT

23. FEBRUAR 2024

LESEDAUER

5 MIN

Nach gängiger Meinung der meisten Ökonomen beschäftigt sich die Ökonomie hauptsächlich mit der effizienten Allokation von Ressourcen durch Märkte und Preise. In seinem Impulsvortrag zu seinem Buch Economics in America: An Immigrant Economist Explores the Land of Inequality wies Angus Deaton auf zwei Defizite dieser effizienzorientierten Sichtweise marktliberaler Ökonomie.

Ein Beispiel dafür, wo das alte Paradigma der marktliberalen Ökononomie falsch lag, war der Mindestlohn. In ihrem berühmten Forschungspapier über die Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen haben David Card und Alan Krueger gezeigt, dass die Einführung eines Mindestlohns nicht zwangsläufig negative Beschäftigungseffekte haben muss, wie es das einfache Lehrbuchmodell vorhersagt. Eine Erklärung dafür liegt in der Existenz von Monopsonen und der Tatsache, dass Löhne eher Ausdruck eines Verteilungskonflikts und weniger des Grenzprodukts der Arbeit sind. Laut Deaton sind Ökonomen, die sich vehement gegen Mindestlöhne aussprechen, ein gutes Beispiel für die Unzulänglichkeiten des Berufsstandes, da sie zu viel Wert auf effiziente Marktlösungen und anschließende Ex-post-Umverteilung legen, ohne die Implikationen der Ex-ante-Verteilung zu berücksichtigen.

Die zweite Schwachstelle hat laut Deaton mit der Sicht der Ökonomie auf den Freihandel und die weltweite Armutsbekämpfung zu tun. Der Grundgedanke, dass der Freihandel als Motor des Wohlstands im nationalen Interesse liegt, scheint durch die groß angelegte und beispiellose Verringerung der Armut in der Welt in den letzten Jahrzehnten bestätigt zu werden. Selbst wenn einige Menschen in den reichen Ländern geschädigt wurden, so lautet das utilitaristische und vor allem das prioritär-kosmopolitische Argument, dass es ihnen immer noch viel besser geht als den aus der Armut herauskommenden global Ärmsten, zum Beispiel in China.

Deaton führt mehrere Argumente gegen diese Pro-Freihandels-Argumente an. Erstens, selbst wenn die Freihandelsgewinne innerhalb eines Landes viel höher sind als die Verluste, sind diese sehr ungleich verteilt, und die hypothetisch mögliche Kompensation wird selten gezahlt. Dies wird durch Anpassungs- und Transaktionskosten (z. B. für den Umzug in eine produktivere Stadt) und eine erschwerte Mobilität (z.B. durch hohe Mieten) noch weiter verschärft. Zweitens scheint der Kosmopolitismus ethisch anfechtbar zu sein, da Mitbürger untereinander, nicht aber mit Ausländern, sowohl gemeinsame Steuer- und Versicherungssysteme als auch militärische, rechtliche und politische Systeme teilen. Drittens, und das hat möglicherweise die schwerwiegendsten Folgen, entstehen potenziell hohe politische Kosten (Populismus), da nur die Staatsbürger eines Landes an Wahlen teilnehmen können. Konkret argumentierte Deaton, dass eine regierende Elite zum Erfolg von Trump beigetragen hat, indem sie bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die der amerikanischen Arbeiterklasse ohne die versprochene Entschädigung schadeten, der Effizienz den Vorrang einräumte und zudem eine herablassende Haltung gegenüber den Kritikern dieser Politik an den Tag legte.

"In einer Demokratie ist es ziemlich dumm, die Wünsche von zwei Dritteln der Bevölkerung zu ignorieren. Und selbst wenn wir [Ökonomen] Recht gehabt haben, muss man kein Wirtschaftsexamen ablegen, um wählen zu dürfen. Und das Problem ist, dass ich mir nicht sicher bin, dass wir immer Recht hatten."
Angus Deaton, 20.02.2024
Unterschied in der Lebenserwartung der US-Bevölkerung ohne College-Abschluss

Deaton zufolge lässt sich das Versagen der US-amerikanischen Gesellschaft an den Zahlen für die Lebenserwartung von Männern und Frauen ohne vierjährigen College-Abschluss (die zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen) ablesen, die seit 2010 stagniert und seit Pandemie drastisch abfällt. Deaton nannte drei mögliche Kanäle, über die die Wirtschaftspolitik eine Rolle bei dieser Entwicklung gespielt haben könnte. Neben der Handelspolitik (China-Schock) nannte er eine höhere politische und rechtliche Relevanz von Unternehmensinteressen, die zusammen mit einem Rückgang der gewerkschaftlichen Organisierung und guter Arbeitsplätze die Macht der Arbeitnehmer gesenkt habe.

Doch worum sollte es in der Ökonomik gehen, wenn nicht (nur) um Effizienz? Um diese Frage zu beantworten, beendete Deaton seinen Vortrag mit drei Zitaten von drei sehr unterschiedlichen Ökonomen und deren Verständnis der Wirtschaftspolitik.

"Niemand kann ein großer Ökonom sein, der nur ein Ökonom ist - und ich bin sogar versucht hinzuzufügen, dass der Ökonom, der nur ein Ökonom ist, wahrscheinlich zu einem Ärgernis, wenn nicht sogar zu einer positiven Gefahr wird."
Friedrich A. Hayek
"Nicht das Wunder, sondern der soziale Enthusiasmus, der sich gegen die Verkommenheit der Straßen und die Freudlosigkeit des verkümmerten Lebens auflehnt, ist der Beginn der Wirtschaftswissenschaft."
Arthur C. Pigou
"Das politische Problem der Menschheit besteht darin, drei Dinge miteinander zu verbinden: wirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheit."
John M. Keynes

Christoph M. Schmidt, der zwischen 1987 und 1991 als Doktorand von Angus Deaton in Princeton in den Vereinigten Staaten lebte, sagte in seinen Ausführungen, er teile mit Deaton das Gefühl der Ambivalenz gegenüber der US-amerikanischen Gesellschaft. Auf der einen Seite habe er großen Respekt vor den enormen wirtschaftlichen, akademischen und kulturellen Errungenschaften, auf der anderen Seite falle es ihm schwer, die große Toleranz gegenüber extremer Ungleichheit und bitterer Armut zu verstehen.

Schmidt verglich die Situation in den USA mit der in Deutschland. Auch wenn die (Einkommens-)Ungleichheit aufgrund des gut funktionierenden Wohlfahrtsstaates weniger problematisch sei, hätten beide Länder das Problem des zunehmenden Populismus gemeinsam.

"Wir haben ähnliche Probleme mit einigen Gruppen der Gesellschaft - Angus sprach von Mistgabeln, was sich mit unseren jüngsten Erfahrungen auf den Straßen deckt. Wenn man nicht die Bedürfnisse und Vorlieben aller Menschen in einer Gesellschaft respektiert, kommt das irgendwann auf einen zurück."
Christoph M. Schmidt, 20.02.2024

In Deutschland, so Schmidt, spiele der Berufsstand der Ökonomen weder im politischen Entscheidungsprozess noch in der öffentlichen Debatte eine so wichtige Rolle. Uneinig waren Deaton und Schmidt sich darüber, wie der Kompromiss zwischen Effizienz und Gerechtigkeit gelöst werden kann. Während Christoph Schmidt der Ansicht war, dass in der deutschen Debatte über Klimapolitik und Kohlenstoffpreise zu wenig Wert auf Effizienz gelegt wird, plädierte Angus Deaton für eine Politik nach dem Vorbild Bidens (grüne Anreize durch konditionierte Subventionen).

Die Diskussion machte deutlich, dass die ökonomische Effizienz nicht nur direkt durch das Gerechtigkeitsempfinden einer Gesellschaft (Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat) begrenzt wird, sondern auch indirekt durch das politische System, wobei populistische Parteien die negativen (Verteilungs-)Effekte einer effizienzorientierten Wirtschaftspolitik ausnutzen.

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