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Arguing for Degrowth – What’s the Evidence?

Michael Jacobs und Jason Hickel im Gespräch über die Notwendigkeit von schrumpfendem Wachstum im globalen Norden und das Potenzial der Degrowth-Bewegung als politische Agenda.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

6. SEPTEMBER 2022

LESEDAUER

3 MIN

An der Frage Wachstum versus Degrowth scheiden sich die Geister. Obwohl die meisten führenden Denker*innen heute darin übereinstimmen, dass Wachstum an sich kein erstrebenswertes Ziel ist, gibt es bei der Frage, ob eine Entkopplung möglich ist und somit Wachstum auf aggregierter Ebene überhaupt erlaubt werden sollte, noch keinen Konsens. Anlässlich unseres Symposiums Grenzen des Wachstums hat Jason Hickel, einer der bekanntesten Befürworter von Degrowth, mit Michael Jacobs darüber diskutiert, welche empirische Evidenz den Forderungen nach Degrowth im globalen Norden zugrunde liegt, und ob die Vorschläge der Bewegung eine Chance haben, als politische Agenda aufgegriffen zu werden.

Jason Hickel räumte zunächst ein, dass politische Entscheidungsträger unter starkem Druck stehen, am Wachstum festzuhalten. Gleichzeitig seien die Beweise für den Zusammenhang zwischen Materialverbrauch, Energieverbrauch und Umweltzerstörung sehr eindeutig. Der Grund dafür, dass Degrowth in der Diskussion, ob Wachstum gut oder schlecht ist, keine agnostische Position einnimmt, liegt laut Hickel darin, dass die Herausforderung, die Wirtschaft zu entkoppeln und zu dekarbonisieren, umso überwältigender wird, je länger die Wirtschaft weiter wächst. Entscheidend sei zudem, dass die Umweltkrise nicht von der Welt als Ganzes verursacht werde, sondern vor allem durch den Überkonsum einiger reicher Länder im globalen Norden. Nach Hickels Ansicht stehen diese Länder daher in einer besonderen Verantwortung, ihren übermäßigen Material- und Energieverbrauch zu reduzieren. Wichtig sei, dass es bei der Degrowth-Agenda nicht darum gehe, jeden einzelnen Wirtschaftssektor zu schrumpfen, sondern gezielt zu unterscheiden, welche Sektoren (zerstörerische Industrien, Produktion von Luxusgütern usw.) schrumpfen, und welche Bereiche tatsächlich wachsen sollten (Investitionen in das Gesundheitswesen, erneuerbare Energien usw.).

 

"Der jüngste IPCC-Bericht sagt ganz klar, dass wir in bestimmten Sektoren Wachstum benötigen, andere Sektoren aber zurückschrauben müssen."

Als weiteren Grundpfeiler der Degrowth-Agenda nannte Hickel die Einführung eines Universal Basic Incomes, sowie Reformen des Arbeitsmarktes hin zu Jobsharing und Arbeitsplatzgarantien zur Verbesserung des sozialen Wohlstandes.

Michael Jacobs stellte heraus, dass unklar sei, wieso die Degrowth-Bewegung dem Technologiefortschritt und Innovationsprozess derart kritisch gegenüberstehe. Typischerweise gilt die Annahme von technologischem Fortschritt und der damit einhergehenden Effizienzgewinne als ein Hauptargument der Befürworter stetigen Wachstums. Hickel verneinte, dass Degrowth an sich technologiefeindlich sei. Vielmehr wolle man sich darauf konzentrieren, Handlungsempfehlungen auf Basis des Status Quos zu entwickeln, anstatt Hoffnung in technologische Lösungen und Reformen zu setzen, die noch nicht umgesetzt, und in vielen Fällen auch noch nicht einmal entwickelt seien.

"Es ist ein sehr riskantes Spiel, sich auf etwas zu verlassen, das noch nicht geschaffen wurde."

Michael Jacobs stellte Jason Hickel’s Argumentation auch in Bezug auf die Auswirkungen von Degrowth auf Einkommen und sozialen Wohlstand im weiteren Sinne in Frage, da viele Prozesse, die derzeit Wohlstand generierten, auf Wachstum angewiesen seien. Statt sich auf das BIP als Maßstab für Wohlstand und Wohlfahrt zu konzentrieren, wäre es Hickel zufolge kohärenter, sich auf die Bereitstellung wesentlicher Güter und Dienstleistungen sowie die Verteilung des vorhandenen Wohlstands zu konzentrieren, von dem derzeit nur ein kleiner Teil der Gesellschaft profitiere.

Die Debatte schloß ab mit der Frage nach dem Potenzial von Degrowth als politisches Programm. Michael Jacobs äußerte sich skeptisch über die Möglichkeit, dass Degrowth jemals als Regierungsprogramm aufgegriffen werden könnte. Mehr als eine politische Agenda sollte Degrowth daher als eine kulturelle Bewegung betrachtet werden. Jason Hickel widersprach und betonte, dass politische Parteien zwar vermutlich nicht geneigt seien, den Begriff Degrowth zu verwenden. Gleichzeitig aber sei die Notwendigkeit, die Lebensgrundlagen der Menschheit zu sichern und dazu die ökologische Zerstörung zu verhindern, so dringlich, dass die Reformvorschläge der Bewegung durchaus ihren Weg in das politische Programm einzelner Parteien  finden könnten.

Die Diskussion als Re-live

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