NEUES LEITMOTIV

Verfassungsrichter in der Zeitenwende

Aus unserer Newsletter-Reihe

VON

THOMAS FRICKE

VERÖFFENTLICHT

4. DEZEMBER 2023

LESEDAUER

5 MIN

Es gehört zu den ehernen Regeln: wenn oberste Verfassungsrichter urteilen, gilt es in Demut umzusetzen, was die Richter anmahnen. Das ist, was die Bundesregierung seit drei Wochen zu tun versucht, seit das Bundesverfassungsgericht für widrig erklärt hat, Gelder aus einem Corona-Fonds noch für die Klimatransformation zu nutzen. Weniger demütig wirkt das, was seitdem dahinter läuft – die Suche danach, was das Urteil im Großen und Ganzen bedeutet, sagen wir paradigmatisch: ist es Signal, wieder zur alten ökonomischen Orthodoxie zurückzukehren, wie Meinungsführer der FAZ meinen – zur Angebotslehre und zu einem Paper wie dem Lambsdorff-Papier aus dem Jahr 1982, als die FDP über die dogmatische Wendung in Deutschland das Zeitalter der Marktliberalen einziehen ließ?

Oder wird mit der Zeit jener Eindruck überwiegen, wonach das Urteil vor allem eins offenbart: wie sehr die Wirklichkeit von dem mittlerweile abweicht, was in der Schuldenbremse vorgesehen ist – in einer Grundgesetz-Regel, die an sich wenig Spielraum dafür lässt, größere Herausforderungen wie den Klimawandel über entsprechende größere Programme anzugehen und vorzufinanzieren. Dann könnte das orthodox wirkende Urteil am Ende sogar den Fortschritt beschleunigen – hin zu einer weniger kategorischen, dafür aber realitätstauglichen Schuldenregel.

Noch scheint offen, wie der Kampf um die Deutungshoheit ausgeht. Der Trend scheint dennoch gerade für die Fortentwicklung zu sprechen: wenn gleich mehrere CDU-Ministerpräsidenten sich mittlerweile offen dafür zeigen, die Schuldenbremse anzupassen; und wenn auch CDU-Chef Friedrich Merz die Subventionen zur Ansiedlung von Chip-Fabriken in Deutschland verteidigt – und damit Lars Feld widerspricht, der Christian Lindner berät und zu denen gehört, die eine Rückkehr der Orthodoxie ersehnen. Holger Schmieding von der Berenberg Bank setzt in seinem Ausblick bereits darauf, dass nach den Wahlen 2025 die Schuldenbremse reformiert wird.

Noch gilt allein der Gedanke daran in Deutschland vielen als Frevel. Im Grunde wäre es nichts anderes als auch in Deutschland anzuwenden, was die modernere Makroökonomie als Lehre aus den vergangenen Jahrzehnten gezogen hat: dass es wenig bringt und im Zweifel sogar schadet, allzu strikte Fiskalregeln ungeachtet von Konjunktur und anderen Umständen durchziehen zu wollen – weil das Krisen teils nur verstärkt, zu dramatischen Mängeln in Infrastruktur und mangelndem Erfolg im Kampf gegen den Klimawandel führt oder sonst wie zu künftig höheren Schäden und Kosten führt.

In der EU wird deshalb ein Konzept vorgeschlagen, das weniger auf harte Regeln als auf Standards und Lösungen setzt, die auf das jeweilige Land in der jeweiligen Lage zugeschnitten ist. Kein Fall für unbeugsame Verfassungsregeln und stramme Richtersprüche.

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Wie sehr diese Zeiten den Übergang zwischen Paradigmen spiegeln, lässt sich nicht nur am Kampf um die Deutungshoheit über hohe deutsche Richter erkennen, sondern auch an dem, was gerade in Argentinien passiert, wo ein leicht irrer Ultraliberaler zum Präsidenten gewählt wurde. Kommen die alten Radikalliberalen jetzt alle zurück? Oder ist die Wahl eher Ausdruck jenes paradigmatischen Vakuums, das das Scheitern des Marktliberalismus hinterlassen hat – und in das seit geraumer Zeit immer wieder Populisten wie Trump, die Brexiteers und jetzt eben Javier Milei in Argentinien mit atemberaubenden Heilsversprechen zu stoßen versuchen? Dazu hatten wir diese Woche Quinn Slobodian in unserem New Economy Short Cut zu Gast – zur Vorstellung seines treffenden neuen Buchs „Kapitalismus ohne Demokratie“. Kommentiert von Max Krahé vom Dezernat Zukunft. Eine Stunde Zeitgeschichte zum Nachhören – hier.

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Ebenfalls zum Nachhören gibt es auf unserer Website jetzt die Beiträge zum Launch unseres Vermögens-Simulators samt neuer ReBalance-Website – hier. Was der Simulator ist und macht – kurz und knapp hier.

Dieser Text stammt aus unserer zweiwöchig erscheinenden Newsletter-Reihe. Zur Anmeldung geht es hier.

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