NEUES LEITMOTIV

Newsletter: Niedergang eines überkommenen Liberalismus - Short Cut mit Petra Pinzler und Stefan Kolev zum Fortschritt

Aus unserer Forum New Economy Newsletter Reihe

VON

THOMAS FRICKE

VERÖFFENTLICHT

3. SEPTEMBER 2024

LESEDAUER

4 MIN.

Liebe Freunde, Kolleginnen und Kollegen, 

jedes Mal, wenn in Wahlen die FDP auf neue Tiefs fällt, dauert es nicht lange, bis zu lesen ist, die Partei falle einfach dem Zeitgeist zum Opfer. In Sachsen ist die Partei jetzt sogar bei den Sonstigen angelangt, knapp unter ein Prozent, auf Augenhöhe mit der Tierschutzpartei. Und zu lesen ist, dass da der Liberalismus mit seinem Vertrauen in Eigenverantwortung und Marktprozesse verschwinde – weil heute das „Ideal des Kümmerstaats“ dominiere, der die Leute von den Zumutungen der Freiheit erlösen möge.

In solch abfälligen Erklärungen steckt ein unerschütterlicher Glaube darin, dass alles besser wäre, wenn nur die Menschen wieder eigenverantwortlich handeln dürften – böser Zeitgeist. Dabei könnte hier das große Drama des Liberalismus liegen, wie er in den vergangenen Jahrzehnten praktiziert wurde. Vielleicht passt das Pochen auf die individuellen Kräfte einfach nicht mehr als Leitmotiv, wenn zu den Herausforderungen ein Klimawandel gehört, der mit Appellen an die individuelle Vernunft nicht zu stoppen ist. Oder die Langzeitfolgen regionaler Strukturbrüche wie im Rust Belt, in Nordengland oder in vielen Teilen Ostdeutschlands – Brüche, die ganze Regionen getroffen haben, und die von Einzelnen beim besten Willen nicht zu bewältigen sind. Da klingt der Appell an die Eigenverantwortung wie Hohn. Hier sind die Hochburgen der Populisten. Kein Zufall.

Die Liste ließe sich verlängern – um etliche Phänomene unserer Zeit, in denen Kontrollverlust verspürt wird, auch wenn es um Migration und Kriminalität geht. Wenn es am Arbeitsmarkt, wie die moderne Ökonomie lehrt, einfach kein Machtgleichgewicht gibt, klingt auch hier der Appell an die individuellen Kräfte wie Hohn. Dazu kamen in den vergangenen Jahren Pandemie und Inflation – ebenfalls Phänomene, bei denen der Appell ans Individuelle nur sehr bedingt hilft. Das sind Dinge, die – mit gesundem Menschenverstand besehen – nur kollektiv und gemeinsam zu lösen sind. Was nicht heißt, dass gleich der Kommunismus einzieht. Das hat mit Mode wenig zu tun. Und es könnte erklären, warum eine Partei, die gegen all solches Kollektive und Gemeinsame poltert, in solchen Zeiten einfach auf dem Niveau der Tierschutzpartei ankommt.

Was nicht sein müsste. Es gäbe ja noch die Option, den Liberalismus zu modernisieren. Dazu gehört nur das Eingeständnis, dass es für wirkliche Freiheit auch nötig ist, die Bedingungen zu schaffen – ob durch staatliche Infrastruktur, pro-aktive Regional- und Industriepolitik oder Mindestlöhne.

Was für den Liberalismus als Leitmotiv gilt, gilt auch für einen anderen großen Begriff: den Fortschritt. Nach alt-liberaler Lehre ist Fortschritt vor allem, was sich in Produktivität und Wirtschaftsleistung messen lässt. Und auch hier könnte es sein, dass das nicht mehr zur Zeit passt (wenn es überhaupt jemals gepasst hat). Darüber diskutieren wir am Donnerstag in unserem nächsten New Economy Short Cut mit Petra Pinzler von der ZEIT und Stefan Kolev vom Ludwig-Erhard-Forum – 5. September ab 16 Uhr. Anmeldung hier.

Einen guten Start in die Woche,

Thomas Fricke

Dieser Text stammt aus unserer zweiwöchig erscheinenden Newsletter-Reihe. Zur Anmeldung geht es hier.

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