DER STAAT

New Industrial Policy – How to get it right

Alles über Industriepolitik: eine Zusammenfassung des Berlin Summit „Winning back the people“, Mai 2024

VERÖFFENTLICHT

12. JUNI 2024

So sehr die Industriepolitik in den letzten Jahrzehnten verpönt war, so groß ist nun die Hoffnung, dass sie zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen entscheidend beitragen wird. Markwirtschaftliche Lösungen allein, so wird zunehmend klar, sind nicht ausreichend, um den Wohlstand für alle zu sichern und die Klimawende zu bewältigen.

Jüngste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Industriepolitik entgegen der vielfachen Kritik durchaus erfolgreich sein kann. Aber wie bei jeder anderen Politik auch, kommt es auf die konkrete Ausgestaltung und den Kontext an, um Ineffizienzen und regulatory capture zu vermeiden. Wie ein aktueller Kommtar des Harvard-Ökonomen Dani Rodrik zu einer Veröffentlichung des Internationalen Währungsfonds (IWF) beim Kurznachrichtendienst X verdeutlich, wird bei Industriepolitik aber ein besonders strenger Maßstab angelegt.

Im Rahmen des Berlin Summit am 28. Mai, bei dem die Frage im Mittelpunkt stand, wie eine neue Wirtschaftspolitik dazu beitragen kann, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen, haben wir führende Denker und Praktiker zusammengebracht, um zu erörtern, was eine erfolgreiche Industriepolitik ausmacht und welche Fehler vermieden werden sollten. Mit dabei waren neben Dani Rodrik und Mariana Mazzucato auch Ufuk Akcigit, Dalia Marin, Emily Sinnot, Franziska Brantner und Jakob von Weizsäcker.

Dass Industriepolitik ein notwendiger Teil des wirtschaftlichen Instrumentariums ist, darüber sind sich inzwischen die meisten einig, wie Dani Rodrik beim Berlin Summit selbst beeindruckt feststellte. Noch vor 6 Jahren, sei dies undenkbar gewesen.

Mit dem Wiederaufleben geht allerdings auch ein neues Verständnis von Industriepolitik einher. Statt einer primär am Wachstum orientierten Strategie der letzten Jahrzehnte, geht es nun vielerorts auch darum, das Wachstum zu steuern, um eine klimaneutrale, gerechtere und resiliente Wirtschaft zu schaffen. Passend dazu forderte Mariana Mazzucato in ihrer Keynote zu Beginn der Konferenz, von einem sektororientierten zu einem problem-orientierten Ansatz überzugehen.

Wie Rodrik in einem Kurzinterview am Rande der Konferenz betonte, müsse angesichts des veränderten wirtschaftlichen Kontextes der Fokus der Industriepolitik in Zukunft stärker auf Dienstleistungen wie Pflege, Bildung und Einzelhandel gelegt werden, und nicht wie bisher auf die Industrie. Dies erfordere auch ein Umdenken in der Frage, wie wir in Zukunft Industriepolitik betreiben. Für Mariana Mazzucato ist eine entscheidende Frage daher auch für Deutschland: Wie bringen wir die Industriepolitik in die “normale” Wirtschaft, wie beispielsweise den Gesundheitssektor?

Auch wenn die Industriepolitik selbst in Hochzeiten des Marktliberalismus nie aus der Praxis verschwunden ist – Reagon, Thatcher und selbst Pinochet schützten wichtige Industrien – neu ist heute, dass selbstbewusster über Industriepoltik gesprochen wird. Und das sei schon einmal ein erster Schritt in die richtige Richtung, so die Einschätzung mehrerer Experten. Doch worauf kommt es noch an, was sind die best practices?

Laut Rodrik bedarf eine wirksame Industriepolitik vor allem klarer Ziele. Zu viele und weit gefasste Ziele parallel zu verfolgen, wie aktuell die Biden Regierung in den USA, mache es schwierig, konkrete Ergebnisse zu erzielen. Erfolgreiche Beispiele für Industriepolitik vereinten darüber hinaus folgende Elemente:

  • Strategische Zusammenarbeit und Dialog mit Unternehmen und anderen Akteuren, um Hindernisse zu verstehen und Bemühungen zu koordinieren (anstelle eines top-down Prozesses);
  • Anpassungsfähigkeit der Politik, um im Laufe der Zeit auf veränderte Umstände zu reagieren;
  • Bereitstellung maßgeschneiderter öffentliche Güter, wie beispielsweise spezifische Schulungen für Arbeitskräfte oder Infrastruktur.

Wie Mariana Mazzucato feststellte, ist eine Lehre aus der Vergangenheit, dass es um  mehr geht als lediglich Darlehen, Subventionen und Zuschüsse zu vergeben. Ein Konferenzteilnehmer formulierte treffend: “Wir müssen die Industriepolitik weniger als eine Politik denn als einen Prozess betrachten.”

Die traditionelle Kritik an der Industriepolitik, dass der Staat nicht durch picking winners in den Wirtschaftsprozess eingreifen sollte, rückt heute in den Hintergrund. Das Erfolgsrezept für eine erfolgreiche Industriepolitik liegt laut Rodrik vielmehr im letting loosers go, also erfolglose Projekte wenn nötig einzustellen. Dies sei, wie der vielzitierte Fall des US-Unternehmens Solyndra verdeutlicht, schwer genug und ginge nicht ohne diszipliniertes Monitoring und datenbasierte Analyse. Und natürlich auch nicht ohne die bereits erwähnte Lern- und Reaktionsfähigkeit der Politik.

Gerade in Deutschland stellt die gering ausgeprägte Fehler- und auch Risikotoleranz gegenüber dem Staat in dieser Hinsicht eine große Herausforderung dar. Eine Stimme aus der Praxis bestätigte, dass es aktuell nicht viel Spielraum für das Austesten gebe.

Mit Blick auf Deutschland wurde vonseiten der Experten einerseits Hoffnung darin gesetzt, dass man nach 30 Jahren des Niedergangs in Ostdeutschland einen Agglomerationsprozess in Gang gesetzt hat, der, wenn er fortgeführt wird, zu einer Reindustrialisierung der Region führen könnte. Mit Sorge wurde allerdings auf den bevorstehenden China-Schock – die bevorstehende Wende in der Handelsbilanz mit China – geschaut. Anders als in den vergangenen Jahrzehnten befindet sich Deutschland heute in einer deutlich schwächeren Ausgangsposition. Ein weiterer klarer Fall für Industriepolitik also.

Nimmt man jedoch Dani Rodriks Warnungen ernst, sollte sich die Industriepolitik nicht übermäßig auf geopolitische Ziele allein konzentrieren. Dies wäre letztlich ein Nullsummenspiel und würde wesentliche innenpolitische Ziele vernachlässigen, wie die Förderung guter Arbeitsplätze und Arbeitsmärkte in armen Regionen.

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Jahrzehnte lang galt der Konsens, dass sich der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehen und man die Staatsschulden senken sollte, um den Wohlstand zu fördern. Dies hat jedoch zu chronischen Mängeln in Bildung und Infrastruktur geführt. Neuere Forschung versucht zu erörtern, wann es sinnvoll ist, dass sich der Staat in den Wirtschaftsprozess einmischt, um langanhaltenden Wohlstand zu garantieren und Krisen zu verhindern.

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