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Neues Leitmotiv
Nach ein paar Jahrzehnten allzu naivem Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden.
Die Krise eines einstigen Paradigmas
Ein Paradigma besteht nicht nur aus einer Reihe von technischen Instrumenten zur Lösung der wichtigsten Herausforderungen. Es braucht auch einige allgemeine Leitlinien. Dies ist eine der wichtigsten Arbeitshypothesen des Forums.
Als Zeichen für ein fehlendes Paradigma, das die Gesellschaften zusammenhält, stehen die liberalen Demokratien heute vor ihrer schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Drei Jahrzehnte lang wurde die Wirtschaftspolitik von dem Glauben an eine Verringerung des staatlichen Einflusses und eine marktgesteuerte Globalisierung beherrscht. Dies hat zwar viele Vorteile gebracht, aber auch grundlegende sozioökonomische Probleme geschaffen, die seit der großen Finanzkrise von 2008 immer deutlicher zutage getreten sind. Dazu gehören ein gefährlich steigendes Maß an Ungleichheit, wiederkehrende Finanzkrisen, die durch ein hohes Maß an Instabilität auf den Finanzmärkten befeuert werden, die Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur, Umweltkrisen sowie der Glaubwürdigkeitsverlust des Narratives, dass die Globalisierung allen zugute kommt. Das Scheitern des jahrzehntealten Paradigmas der marktorientierten Globalisierung und Wirtschaftspolitik hat auf individueller und politischer Ebene zu einem allgemeinen Gefühl des Kontrollverlusts geführt.
Die Geschichte zeigt, dass, wenn bestehende Paradigmen als Leitprinzipien für die Politik versagen, ein Vakuum entsteht, das vor allem populistische Kräfte mit einfachen, aber gefährlichen Antworten schnell ausnutzen zu wissen. Der rasante Aufstieg populistischer Strömungen in den westlichen Demokratien im letzten Jahrzehnt zeigt dies eindrücklich. Was wir dringend brauchen, ist ein neues Paradigma, ein neues Leitmotiv – um die trügerisch einfache Doktrin der Unfehlbarkeit der Märkte durch etwas zu ersetzen, das besser geeignet ist, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen. Dabei geht es nicht nur um technische Antworten, sondern auch um eine Leitlinie für eine Wirtschaftspolitik, die nachhaltigen Wohlstand in einem finanziell stabilen Umfeld für möglichst viele Menschen schafft. Andernfalls wird es schwierig sein, die drängendsten Herausforderungen unserer Zeit zu lösen – ob Klimawandel, Ungleichheit oder die Krise der Globalisierung. Und es wird schwierig sein, die Menschen davon zu überzeugen, dass es bessere Antworten gibt als die, die ihnen von populistischen Kräften angeboten werden.
Was schiefgelaufen ist
Ein stetig wachsender Berg empirischer Belege deutet darauf hin, dass ein Großteil der heutigen Krisen mit den Spätfolgen und dem Zusammenbruch des marktliberalen Paradigmas zusammenhängt, das die Politik in den meisten Ländern der Welt seit den 1970er Jahren geleitet hat.
Von der Vorstellung effizienter und sich selbst stabilisierender Finanzmärkte bis hin zu der Überzeugung, dass ein immer größerer Finanzsektor den Wohlstand der Gesellschaft steigert und der marktbasierte Emissionshandel als Allheilmittel für die Klimakrise dienen kann, hat die Realität – und neue Forschungsergebnisse – die wahren Kosten des jahrzehntelangen Festhaltens am marktbasierten Paradigma aufgezeigt. Die globale Finanzkrise hat die den Finanzmärkten innewohnende Tendenz zu Boom-and-Bust-Zyklen offenbart, und der jüngste Bericht des Weltklimarats (2021) legt nahe, dass die derzeitige Entwicklung der Weltwirtschaft mit ihren hohen Kohlenstoffemissionen nicht mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens vereinbar ist, was ebenfalls darauf hindeutet, dass der marktbasierte Emissionshandel nicht ausreicht und sogar selbst Instabilität schafft.
Auch andere Säulen des alten Paradigmas bröckeln. Dies reicht von der Vorstellung, dass ein geringerer staatlicher Einfluss eine Voraussetzung für wirtschaftliche Dynamik ist, über das Dogma der expansiven fiskalischen Austerität bis hin zur Trickle-Down-Hypothese, der zufolge Steuersenkungen für die Reichen „durchsickern“ und so effektiv den Wohlstand für alle erhöhen. In Realität ist das Wachstum nicht „durchgesickert“, sondern die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen heute viel größer als in den 1980er Jahren. Dies führt zu ernsthaften gesellschaftlichen Problemen. In der Europäischen Union wie auch anderswo hat die regulatorische Fixierung auf die Senkung der jährlich festgelegten Defizitquoten eine Finanzpolitik angeregt, die systematisch zu prozyklisch war und Konjunkturschwankungen und Krisen gar verschärft. Gleichzeitig hat das Dogma, dass der Staat von einer wirtschaftlichen Intervention möglichst absehen sollte, zu gravierenden Investitionslücken in der Infrastruktur geführt – in Europa ebenso wie in den USA.
Nirgendwo wurde die Vorherrschaft des marktwirtschaftlichen Paradigmas so sehr auf die Spitze getrieben wie bei der Annahme, dass der Freihandel im Allgemeinen den gesamtwirtschaftlichen Wohlstand erhöht und die Vorteile der Globalisierung ihre Kosten stets aufwiegen würden.
Wie die Gewinner der Globalisierung die Verlierer entschädigen würden, war für die meisten Wirtschaftswissenschaftler nur ein nachträglicher Gedanke. In Wirklichkeit gab es kaum Entschädigungen, und Technologie und Globalisierung haben zu sozioökonomischen Verwerfungen geführt und so ganze Regionen abgehängt. Das durch den Verlust der individuellen und politischen Kontrolle entstandene Vakuum wurde schnell von Populisten gefüllt.
Alles in allem scheint deutlich, dass die marktliberalen Vordenker die Fähigkeit der Märkte zur Regulierung von großen Herausforderungen, wie dem Kampf gegen den Klimawandel, weitgehend überschätzt haben. In anderen Fällen haben die liberalen Märkte enorme Herausforderungen geschaffen, wie zum Beispiel auf den Finanzmärkten. Dies führt zu der übergreifenden Frage, wie die Rollen der Märkte und die Rolle des gemeinsamen gesellschaftlichen Handelns wieder ins Gleichgewicht gebracht werden können.
New Economy in Progress
Seit der großen Finanzkrise von 2008 hat sich die Suche nach einem neuen Paradigma beschleunigt, das den heutigen Herausforderungen besser gerecht wird als das frühere Marktdogma. Und obwohl ein kohärentes neues Paradigma noch nicht gefunden ist, haben sich zuletzt immer deutlicher neue Antworten und Akteure herauskristallisiert.
Zu den neuen Antworten gehören Konzepte, die auf der Frage basieren, wie die Finanzmärkte stabiler gemacht werden und wieder der Realwirtschaft dienen können, sowie Ideen dazu, wie eine schädliche Sparpolitik vermieden – und wie gute statt schlechte Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Die Forschung zu zentralen Elementen eines neuen Paradigmas dreht sich auch um die Frage, wie die Rolle des Staates gegenüber den Märkten neu definiert werden kann. Es geht darum, neu auszuloten, welche Ziele neben dem BIP verfolgt werden sollen, denn die typische Zielmarke der marktliberalen Ordnung hat erhebliche Nachteile, wenn es darum geht, wirtschaftliche, ökologische oder gesellschaftliche Nachhaltigkeit zu messen und sicherzustellen. Dies bedeutet auch, Europa und die Euro-Architektur neu zu definieren, eine langfristige Finanzpolitik jenseits des Austeritätsdogmas zu definieren und das globale Handelssystem zum Nutzen aller neu zu gestalten. Wie auch immer die neuen Leitprinzipien aussehen werden, sie sollten dazu beitragen, die Ungleichheit zu verringern, das Finanzwesen wieder für die reale Welt nutzbar zu machen, sozioökonomische Verwerfungen aufgrund der Globalisierung und des technologischen Wandels besser zu bewältigen und das Klima zu retten, ohne allein auf die Marktkräfte zu setzen – die immerhin zu vielen der Probleme beigetragen, oder sich als unzureichend erwiesen haben, um sie zu lösen.
Unserem Verständnis nach muss ein neues Paradigma mehr sein, als die Summe einer Reihe von technischen Lösungen.
Ein neues Paradigma erfordert ganz allgemein eine langfristige Ausrichtung der Entscheidungsfindung, eine bessere systematische Einbeziehung der Folgen, die potenziell disruptive Entwicklungen wie Globalisierung, Digitalisierung oder Klimawandel für die Gesellschaft mit sich bringen, eine bessere Antizipation von möglichem Marktversagen in der Politik und ein besseres Verständnis von Risiken.
Als Gesellschaft benötigen wir Leitprinzipien, die der Politik helfen, angemessene Antworten auf die wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit zu finden und das Vertrauen der Menschen darin zurückzugewinnen, dass die Politik Ziele und Ansätze verfolgt, die auf einem breiten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konsens beruhen. Die Frage drängt sich auf, welche neuen Leitlinien zur Lösung der heutigen Herausforderungen beitragen können. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Antwort nicht darin bestehen wird, vom Marktfundamentalismus zu einem Paradigma überzugehen, bei dem alle Herausforderungen von der Regierung gelöst werden müssen.
Ein entscheidender gesellschaftlicher Wandel wird in der Regel durch eine große Krise ausgelöst, die das alte Verständnis stark in Frage stellt – wie die Stagflation, die dem marktliberalen Wandel in den 1970er Jahren half. Die Suche nach neuen Antworten gewinnt dann an Schwung und immer mehr Anhänger der alten Ordnung öffnen sich für neue Ideen, sei es in der Forschung, in den Medien oder in der Politik. Wie die Geschichte jedoch zeigt, kann ein neues Paradigma das alte nur dann ablösen, wenn es überzeugende neue Leitprinzipien gibt. Diese Leitfäden beginnen dann, die Forschung, die öffentlichen Debatten und die politische Entscheidungsfindung zu dominieren.
Die Entwicklung eines solchen neuen Paradigmas erfordert eine Verhaltensänderung in der Politikgestaltung, neue Kriterien und Instrumente sowie eine andere Sprache und Logik im akademischen und öffentlichen Diskurs. Die Herausforderung besteht darin, die einfachen Erzählungen des früheren, allzu sehr vom Markt dominierten Paradigmas zu ersetzen. Ein solcher Wechsel braucht Zeit, wird durch eine sich verschärfende Glaubwürdigkeitskrise des alten Paradigmas vorangetrieben und hängt entscheidend davon ab, dass sich das Mainstream-Denken allmählich in Richtung einer zunehmend überzeugenden neuen Reihe von Leitideen für die Politikgestaltung verändert.