IX New Paradigm Workshop - A new economy, where are we?
27.10.2021
09:00 Uhr - 19:30 Uhr
ORT
Online-Event
SPRACHE
Deutsch und Englisch mit Simultanübersetzung
Vierzig Jahre nach Beginn des Zeitalters der Reaganomics scheint in den USA eine neue Epoche begonnen zu haben. In einstmals markliberalen Institutionen wie dem IWF hat ein großer Paradigmenwechsel eingesetzt. In der Ökonomie gibt es neue Denkschulen. Und selbst in Deutschland scheint mit der Aussicht auf die neue Regierung das Potenzial da zu sein für etwas grundlegend Neues. All das ist für uns Grund genug, einen Zwischenstopp einzulegen auf dem Weg hin zu einem möglichen neuen Paradigma bei unserem IX New Paradigm Workshop am 27. Oktober.
Eine Übersicht aller Sessions und der wichtigsten Takeaways – schriftlich und als Video.
Die erste Sitzung unseres IX New Paradigm Workshops hatte zum Ziel, ein Update zu neuen ökonomischen Theorien in den folgenden Bereichen zu geben: i) Rolle des Staates, ii) Klima und iii) Fiskalpolitik.
i) Rolle des Staates
RAINER KATTEL erläuterte die Entstehung einer neuen Denkweise in Bezug auf die Innovationspolitik und den Paradigmenwechsel weg vom „hands-off“-Ansatz hin zu einer größeren Rolle für den Staat. Er hob zwei Bereiche hervor, die für eine aufgabenorientierte Politik von besonderer Bedeutung sind, und zwar das nachhaltige Finanzsystem und die Wettbewerbspolitik. In der Vergangenheit war ein Großteil der Innovationspolitik auf militärische und sicherheitspolitische Erfordernisse zurückzuführen und ging nicht ausreichend auf die alltäglichen Bedürfnisse der Menschen ein („Mond- und Ghetto-Paradoxon“). Künftig muss die Innovationspolitik unter Einbeziehung der breiten Öffentlichkeit und mit einem ganzheitlichen Ansatz umgesetzt werden, der die Auswirkungen auf alle relevanten Sektoren berücksichtigt.
PHILIPP STEINBERG (BMWI, BERLIN) stimmte in der Hinsicht zu, dass eine grüne Transformation der Wirtschaft notwendig sei. Er erklärte, dass sein Ministerium an der Ausweitung der grünen Beschaffung und der Verbesserung des Wettbewerbsrechts arbeite. Seiner Ansicht nach können (neo)klassische Argumente Markteingriffe im Falle von Marktversagen rechtfertigen. Unter Bezugnahme auf die Idee eines „unternehmerischen Staates“ sagte er, dass er nicht so weit gehen würde, sondern eher den Begriff eines „transformativen Staates“ wählen würde, der bestimmte aufgabenorientierte Ziele umsetzt.
ii) Moderne Klimapolitik
Nach Ansicht von TOM KREBS sollte der Eckpfeiler einer modernen Klimapolitik darin bestehen, die öffentlichen (Infrastruktur-)Investitionen zu erhöhen, insbesondere in den Bereichen Verkehr und Energie, da dies grünes Wachstum und Arbeitsplätze schaffen wird. Schuldenfinanzierte öffentliche Investitionsprojekte, u. a. in das Eisenbahnsystem, das Energienetz und die Wasserstoffwirtschaft, könnten aufgrund ihrer hohen (sozialen) Rendite wirtschaftlich sinnvoll sein. Er erläuterte mögliche Wege für öffentliche Investitionen, die zur Erreichung der Netzneutralität bis 2045 notwendig sind und mit der deutschen Schuldenbremse vereinbar wären.
KATHARINA BOHNENBERGER lenkte die Diskussion auf das Ausmaß der wirtschaftlichen Transformation, die notwendig ist, um die Welt auf den Weg zum 1,5-Ziel zu bringen: ein rascher Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen oder eine „Exnovation“ des braunen Energiesektors, während gleichzeitig das Problem der sozialen Ungleichheit im Allgemeinen und der Ungleichheit im Energiekonsum im Speziellen angegangen wird.
iii) Ein neues fiskalpolitisches Paradigma
Während der Pandemie haben die EU-Mitgliedstaaten hohe Haushaltsdefizite angehäuft, weshalb einige EU-Mitgliedstaaten (vor allem die „sparsamen Vier“) eine rasche Rückkehr zu den Haushaltsregeln fordern. Andere warnen hingegen davor, die Fehler aus der EU-Staatsschuldenkrise zu wiederholen, nämlich die Haushalte zu früh im Aufschwung zu kürzen. CATHERINE MATHIEU präsentierte die aktuelle akademische Diskussion über Alternativen zu den bestehenden und etwas willkürlichen EU Fiskalregeln (60% Schuldenstand/BIP, 3% Defizit/BIP, 0,5% strukturelles Defizit/BIP). Die meisten Vorschläge konzentrieren sich auf eine Regel, die die öffentlichen Ausgaben begrenzt. Ein anderer Ansatz, den Blanchard et al. (2021) vorschlagen, wäre der Austausch fiskalischer Regeln durch fiskalische Standards, die von neu geschaffenen unabhängigen fiskalischen Institutionen überwacht würden. Diese müssten allerdings ihre Entscheidungen auf der Basis von stochastischen Schätzungen der Wahrscheinlichkeit einer Staatsinsolvenz treffen, die grundsätzlich mit hoher Unsicherheit verbunden ist. Daher schlagen Mathieu und Sterdyniak (2021) ein neues fiskalisches Paradigma vor: Die Mitglieder sollten die Möglichkeit haben, einen Haushaltssaldo zu bestimmen, der mit ihren makroökonomischen Bedürfnissen im Einklang steht, und sich auf eine offene Koordinierung einigen, bei der sie Wachstum, Vollbeschäftigung und die ökologische Transition anstreben sollten.
CHRISTIAN BREUER formulierte die EU-Fiskalpolitik in Form einer Kosten-Nutzen-Analyse. Während die Kosten, die dadurch entstehen, dass den Ländern eine Stabilisierungspolitik untersagt wird, oft übersehen werden, ist das Niedrigzinsumfeld ein gutes Argument für eine Lockerung der Fiskalregeln. Er warf zudem die Frage auf, welche Rolle Länder wie z.B. Deutschland beim Abbau ihrer übermäßigen Leistungsbilanzüberschüsse spielen könnten.
Nachdem die COVID-19-Pandemie die Schwächen des stark auf Marktliberalisierung ausgerichteten neoliberalen Wirtschaftssystems erneut verdeutlicht hat, scheint sich ein neues politisches Paradigma immer stärker abzuzeichnen. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht fordert das G7 Economic Resilience Panel ein radikal erneuertes Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Sektor, um eine nachhaltige, gerechte und widerstandsfähige Wirtschaft zu schaffen. Zu den Mitgliedern des Gremiums gehören unter anderem die IIPP-Direktorin Mariana Mazzucato und der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Philippon.
In Vorbereitung auf unseren IX New Paradigm Workshop am 27. Oktober hatten wir die Gelegenheit, mit der deutschen Beauftragten für das G7 Economic Resilience Panel, Stormy-Annika Mildner, über die Entstehungsgeschichte des G7-Berichts zu sprechen. Fast ein halbes Jahrhundert lang bestimmte der Washington Consensus die globale Wirtschaftspolitik, nun folgt der Versuch des Panels, einen im Geiste, wenn auch nicht Inhalt, dem berühmten Washington Consensus nachempfundenen neuen wirtschaftlichen Konsens zu entwickeln – den ‚Cornwall Consensus‘. Darin werden sieben Prioritäten für öffentlich-private Investitionen, globale Standards und eine bessere Regierungsführung, auch in den Bereichen Gesundheit und Klimawandel, festgelegt.
Wie Stormy-Annika Mildner in ihrem Gespräch mit uns erläuterte, wurde das G7 Economic Resilience Panel ursprünglich mit einem starken Fokus auf die Erhöhung der Widerstandsfähigkeit globaler Lieferketten initiiert. Die massiven Herausforderungen der Corona-Krise, und die dadurch zu Tage tretenden Unzulänglichkeiten des alten Wirtschaftsparadigmas, veranlassten die Gruppe jedoch, wirtschaftliche und gesellschaftliche Resilienz in einem breiteren Rahmen zu denken.
Im Mittelpunkt des Cornwall-Konsenses steht die Idee, einen neuen Pakt der Solidarität zu schließen, so Mildner. Zentral sei dabei die Einsicht, dass Marktliberalisierung und Deregulierung nicht automatisch zu Wohlstand und Prosperität führen, sondern durch wirtschaftspolitischen Maßnahmen begleitet werden müssen, die Auswirkungen auf Ungleichheit, Protektionismus und Klimawandel berücksichtigen.
Zu den wichtigsten Empfehlungen des Gremiums gehört eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den (G7) Ländern durch verbesserte Kommunikationskanäle und gemeinsame Handlungsanweisungen. So sollten nicht nur Daten über gemeinsame Risikofaktoren ausgetauscht, sondern auch die Anstrengungen zur Verbesserung von Investitionen intensiviert werden. Ein im Bericht genanntes Beispiel, das auch in unserem Gespräch mit Mildner hervorgehoben wurde, ist die Empfehlung, ein missionsorientiertes Forschungszentrum nach dem Vorbild des CERN zu gründen, das Klima-Innovationen fördern und öffentliche und private Investitionen zur Dekarbonisierung der Wirtschaft bündeln kann.
Darüber hinaus empfiehlt das Gremium, bestehende Governance-Strukturen und -Standards stärker an die Realitäten des 21. Jahrhunderts anzupassen und sozioökonomischen Wohlstand und Fortschritt in einem breiteren Rahmen als Wachstum und BIP zu betrachten.
Während unseres IX. New Paradigm Workshops sprachen wir mit Diane Coyle und Michael Jacobs darüber, warum sich die Wirtschaft verändern muss und was es braucht, um ein übergreifendes Wirtschaftsparadigma zu entwerfen.
Diane Coyle begann ihren Vortrag mit Zahlen zur zeitlichen Entwicklung der Anzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen nach Fachbereichen in den Wirtschaftswissenschaften. Hierbei zeige sich seit den 1980er Jahren eine „angewandte Wende“, d. h. eine stetige Überholung der Mikroökonomie als Fachgebiet. Der Mangel an Diversität an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten führe zu einer unbewussten Voreingenommenheit in Bezug auf die wirtschaftlichen Modellierung und in der Anwendung statistischer Methoden, was indirekt auch den „data bias“ in der künstlichen Intelligenz fördert. Darüber hinaus mache der Mangel an Transdisziplinarität die Wirtschaftswissenschaften zu einer recht selbst-bezogenen Wissenschaft. Die Grundannahmen über Gesellschaft und Märkte (u.a. der „homo oeconomicus“), verzerrten die Realität und führten zu der Tendenz, sich bei der Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme auf die Märkte zu verlassen. In ihrem Buch „Cogs and Monsters: What Economics Is, and What It Should Be“ empfiehlt sie, enger mit anderen Disziplinen und anderen Methoden zusammenzuarbeiten, zur politischen Ökonomie zurückzukehren und die Wohlfahrtsökonomie neu zu beleben.
Michael Jacobs stellte die verschiedenen Aspekte eines politisch-ökonomischen Paradigmas vor. Jedes Paradigma braucht konkrete politische Ziele, unterstützende Wirtschaftstheorien und erfolgreiche Wege, den öffentlichen Diskurs zu gestalten. Seiner Ansicht nach befinden wir uns in der historischen Entsprechung der Großen Depression der 1930er Jahre – einer Zeit, in der die politischen Rezepte des vorherrschenden Paradigmas gescheitert sind, aber ein neues wirtschaftliches Denken noch nicht Fuß gefasst hat. Zu den Hindernissen gehören die unzureichende Kommunikation zwischen den so genannten Mainstream- und den heterodoxen ökonomischen Denkschulen und die allgemein fehlende Umsetzung ökonomischer Ideen in der breiten öffentlichen Debatte. Er schlägt vor, das Wirtschaftswachstum als Hauptziel der Politik durch eine neue Reihe von Zielen zu ersetzen, darunter ökologische Nachhaltigkeit, Verbesserung des Wohlbefindens, Verringerung der Ungleichheit und Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems.
Es folgte eine lebhafte Diskussion über die zentralen Annahmen in Wirtschaftsmodellen und darüber, inwieweit sie überdacht werden sollten. Michael Jacobs und Diane Coyle betonten beide, dass das Kernproblem des Basismodells die Annahme einer „idealen Welt“ im Basismodell sei, während die so genannten Externalitäten in Wirklichkeit grundlegende Faktoren in der Wirtschaft seien. Maja Göpel unterstrich die Notwendigkeit, die Gründe für das bisherige Scheitern der Entkopplung zu ergründen, unter anderem durch eine genauere Betrachtung der Rebound-Effekte. Sie unterstrich auch die Bedeutung einer besseren Qualität von Daten und Indikatoren (z. B. für die biologische Vielfalt) für die Ausrichtung des Systemwechsels in der Wirtschaft auf eine bessere Berücksichtigung der Komplexität.
Jakob von Weizsäcker stimmte zu, dass der Versuch, die ökonomischen Probleme das 21. Jahrhundert mit ökonomischen Reflexen des 20. Jahrhunderts zu lösen, scheitern wird. Daher sollten Wirtschaftswissenschaftler neugieriger und selbstkritischer sein, Ad-hominem-Argumente innerhalb des Berufsstandes vermeiden und sich darauf konzentrieren, neue Lösungen anzubieten. Seiner Ansicht nach befinden wir uns noch in einer „Prä-Paradigma-Phase“ und sind noch nicht in der Lage, eine praktikable Alternative zu präsentieren. Nach Ansicht von Jens Südekum war das grundlegende Wachstumsmodell recht flexibel, z. B. bei der Einbindung des Finanzsektors. In diesem Punkt äußerte sich Antonella Stirati vorsichtiger und wies auf einige Inkonsistenzen in den ökonomischen Modellen hin. Sie warf die Frage auf, ob der derzeitige Paradigmenwechsel von Dauer sein werde und inwieweit sich das „alte“ Denken (z.B. in Form der EU-Fiskalregeln) ändern werde, insbesondere im Falle einer Umkehrung des Niedrigzinstrends.
Welche politischen Maßnahmen helfen gegen Ungleichheit? Wie hängen Ungleichheit und Zentralbankpolitik miteinander zusammen? Warum ist reine Umverteilung nicht genug, um Populismus zu bekämpfen?
Die zweite Sitzung zur Aktualisierung der Knowledge-Base hatte zum Ziel, ein Update zu neuen ökonomischen Überlegungen in drei Bereichen zu geben, die mit Ungleichheit zu tun haben: i) (Vermögens-)Ungleichheit, ii) Finanzmärkte durch die Brille der Ungleichheit und iii) Populismus.
i) Ungleichheit
Wenn von Ungleichheit die Rede ist, stellt sich immer die Frage: Ungleichheit von was? Bezogen auf Deutschland betonte CHARLOTTE BARTELS die Bedeutung der Vermögensungleichheit, die seit der Wiedervereinigung am stärksten zugenommen hat. Allerdings hat sich die Politik bisher vorrangig mit der Ungleichheit der (Arbeits-)Einkommen beschäftigt. Während Maßnahmen wie der Mindestlohn in den Koalitionsgesprächen prominent diskutiert werden, scheint eine Vermögenssteuer vom Tisch zu sein. Sie plädierte für einen Wandel hin zu einer Politik gegen die Vermögensungleichheit, wobei sie zwei Arten unterschied: 1. auf der Einnahmenseite: Besteuerung der Reichen. 2. auf der Ausgabenseite: Unterstützung des Vermögensaufbaus der Armen.
CARMEN GIOVANAZZI wies in ihren Ausführungen auf die Bedeutung des Unternehmensvermögens für die Vermögensungleichheit hin. Sie stimmte auch zu, dass die Vermögenseffekte von Mieten und Immobilien besonders besorgniserregend sind. Am Beispiel des Volksentscheids zur Enteignung großer Immobiliengesellschaften in Berlin führte sie aus, dass die Mehrheiten für Maßnahmen gegen die Vermögensungleichheit vorhanden seien, es aber ein Problem des politischen Entscheidungsprozesses zu sein scheine, diese umzusetzen.
ii) Finanzmärkte
In seinem Vortrag über neues ökonomisches Denken im Bereich der Finanzmärkte betonte MORITZ SCHULARICK drei Punkte.
1. Das Versprechen der 90er Jahre, dass die Finanzmarktliberalisierung zu stabileren Finanzmärkten aufgrund höherer Risikoteilungskapazitäten, höherer Effizienz bei der Kapitalallokation und damit zu höherem Wachstum führen wird, hat sich als falsch erwiesen. Anscheinend haben die politischen Entscheidungsträger während des Covid-19 aus der Finanzkrise gelernt und die Zentralbanken haben ihr Mandat als Kreditgeber der letzten Instanz in einem noch nie dagewesenen Ausmaß erweitert (mit guter Begründung).
2. Zusammen mit der Zunahme der Heterogenität in Wirtschaftsmodellen wurde die Annahme des alten Paradigmas, dass die Geldpolitik neutral ist, in Frage gestellt. Viele Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Verteilungseffekte der Geldpolitik. Es besteht kein Konsens über die Richtung der Auswirkungen, aber eines ist klar: Zentralbanken leben nicht in einer Welt des göttlichen Zufalls – eine stabile Inflation führt nicht automatisch zu hohem Wachstum.
3. Aber nicht nur die Auswirkungen der Geldpolitik auf die Ungleichheit werden untersucht, sondern auch die umgekehrten Effekte. Es gibt auch Untersuchungen darüber, wie sich Verschiebungen in der Einkommensungleichheit auf die Sparquoten auswirken, was beim Rückgang der Zinssätze eine Rolle gespielt haben könnte.
In ihren Ausführungen hob DOROTHEA SCHÄFER hervor, dass die Politik der Zentralbanken zwei Auswirkungen auf die Ungleichheit hat. Auf der einen Seite haben die Besitzer von Vermögenswerten – meist an der Spitze der Vermögens- und Einkommensverteilung – von den Zentralbankkäufen profitiert. Auf der anderen Seite haben auch hoch verschuldete Haushalte von den niedrigen Zinsen profitiert, ebenso wie Haushalte mit geringerem Einkommen durch Beschäftigungseffekte.
iii) Populismus
Ein Thema, das eng mit der Ungleichheit zusammenhängt, wurde im letzten Teil der Sitzung diskutiert, nämlich der Populismus. ROBERT GOLD interpretierte populistische Stimmen als Widerstand gegen den Strukturwandel, was angesichts der gewaltigen Veränderungen, die durch die Klimapolitik auf uns zukommen, die Bedeutung dieses Themas unterstreicht. Er betonte, dass Umverteilung allein nicht ausreiche, um den Populismus zu bekämpfen, da die Menschen nicht nur mit finanziellen Verlusten konfrontiert seien. Ein Weg könnte darin bestehen, den technologischen Wandel nicht als exogen gegeben hinzunehmen, sondern ihn zu gestalten, wie vorgeschlagen von Joe Kaeser auf unserem Workshop im Mai.
In seinen Ausführungen zum Umgang mit Populismus ging GUSTAV HORN auf den Elefanten im Raum ein: die Unsicherheit. Aus vielen Gründen, die auch in den vorangegangenen Vorträgen genannt wurden, wie Wohlstandsgefälle, Heterogenität oder Covid-19, ist die Unsicherheit gestiegen. Er argumentierte, dass politische Maßnahmen über die Umverteilung hinaus auf Respekt aufbauen sollten.
Damit sich neue Ideen verbreiten können, sind Narrative entscheidend. Aber, gibt es überhaupt so etwas, wie ein Narrativ für ein progressives Paradigma? Mit dieser Frage leitete der Moderator ULRIKE HERRMANN die Sitzung über Narrative ein.
Narrative economics ist prominent, seit Robert Shiller seinen Schwerpunkt auf die Erklärung von wirtschaftlichen Ereignissen durch Narrative gelegt hat. MICHAEL ROOS stellte seinen theoretischen Rahmen zu Narrativen vor und präsentierte zwei Beispiele aus dem wirtschaftlichen Bereich über das Genie Elon Musk und den regelbasierten Ansatz von Ben Bernanke.
Aus einer eher praktischen Sichtweise heraus stellte THOMAS FRICKE eine Studie über Narrative in den Wahlprogrammen für die Bundestagswahl in Deutschland vor. Die Narrative für ein neues Paradigma scheinen Kopf an Kopf mit den Narrativen des alten marktliberalen Paradigmas zu stehen. Er kam zu dem Schluss, dass die neuen Narrative noch nicht überzeugend genug sind, um die alten zu ersetzen.
ANATOLE KALETSKY betonte in seinem Vortrag, dass die Realität von Narrativen oft nicht vorhergesehen wird, indem er als Beispiel die Angst vieler Ökonomen nach dem Zweiten Weltkrieg vor einer Ära der Depression und Rezessionen anführte. Daher sei die Angst vor einem Wiederaufleben der Stagflation unnötig. Außerdem unterstrich er, dass es in der Wirtschaftspolitik wirklich an der Zeit für ein neues Paradigma ist.
WILLIAM LAMB sprach über Narrative im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Genauer gesagt sprach er über die Gegenbewegung zum Klimawandel, die die Klimapolitik durch die Verbreitung von Klimaleugner-Diskursen verhindert.
Wir haben Dora Meade von NEON UK gebeten, auf der Grundlage ihres Berichts „Framing the Economy“ zu erläutern, wie gute Narrative den Übergang zu einem neuen Wirtschaftssystem beschleunigen können.
Gemeinsam mit NEF, FrameWorks Institute und PIRC hat NEON (New Economy Organisers Network) kürzlich einen Bericht mit dem Titel „Framing the Economy“ veröffentlicht, in dem dargelegt wird, wie progressive Kräfte eine neue Geschichte erzählen können, um den Übergang zu einem neuen Wirtschaftssystem zu beschleunigen. Für unseren IX New Paradigm Workshop baten wir die Leiterin der Abteilung für Nachrichtenübermittlung, Dora Meade, einige praktische Erkenntnisse aus dem Bericht mit uns zu teilen, gefolgt von einer Diskussion mit dem politischen Ökonomen und Klimaaktivisten Tadzio Müller.
Wie Meade erläuterte, wurden im Rahmen des zweijährigen Projekts drei zentrale Elemente für die Entwicklung von Narrativen identifiziert: das Schmieden einer gemeinsamen Agenda (Definition einer Vision), das Verstehen des Publikums und die Kartierung der Lücken (um Möglichkeiten für das Erzählen von Geschichten zu definieren). Im Vereinigten Königreich, wo das Projekt „Framing the Economy“ durchgeführt wurde, konnten die NEON-Forscher feststellen, dass die meisten Menschen die Wirtschaft als einen „Container“ betrachten, in den Dinge hineingehen und aus dem sie wieder herausfließen. Die Vorstellung von der Wirtschaft als einem Behälter führte dazu, dass die Menschen in zwei gegensätzliche Lager gespalten wurden: Nehmer und Geber. Darüber hinaus führte es dazu, dass sich die Menschen von den Abläufen in der Wirtschaft, die ihrer Meinung nach am besten Experten oder sich selbst überlassen werden sollte, abgekoppelt fühlten.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse konnten NEON und seine Partner eine Reihe von Prioritäten für die Entwicklung von Erzählungen festlegen. Erstens: Anstatt abstrakt über die Wirtschaft zu sprechen, ist es wichtiger, die Bedingungen zu betonen, die sie für jedes Mitglied der Gesellschaft schafft. Zweitens sollten fortschrittliche Narrative, anstatt die Botschaft zu vermitteln, was in der Welt falsch läuft, zunächst den Wert der Interdependenz in den Vordergrund stellen – die Idee, dass wir alle auf kollektive Weise unter dem Dach der sozioökonomischen Aktivität aufeinander angewiesen sind.
Tadzio Müller fügte hinzu, dass ein Narrativ nur so mächtig ist wie die mit ihm verbundenen Praktiken. Insbesondere bei den Erzählungen über den Klimawandel und die Ungleichheit fehlt es bisher an ansprechenden Erzählungen, die politische Maßnahmen gegen den schwer zu vermittelnden Kontext der wirtschaftlichen Grenzen und der globalen wirtschaftlichen Verschuldung auslösen können.
In ihrem neuen Buch „What we owe each other – a new social contract“ erklärt Minouche Shafik, wie tiefgreifende Veränderungen in der Technologie, der Demografie und der Klimakrise unseren bestehenden Gesellschaftsvertrag unter Druck gesetzt haben, und argumentiert, dass die derzeitige Krise eine Gelegenheit bietet, ihn neu zu definieren. Wieso die aktuelle Krise dafür eine ideale Gelegenheit bietet, hat Shafik mit Xavier Ragot und Marcel Fratzscher diskutiert.
MINOUCHE SHAFIK erklärte, dass der Gesellschaftsvertrag des 20. Jahrhunderts zerbrochen sei. Er basierte auf dem Konzept einer klaren Arbeitsteilung innerhalb der Familien mit einem Alleinverdiener, der oft eine dauerhafte Anstellung mit festgelegten Sozialleistungen hatte. Die Emanzipation der Frau, die Digitalisierung und die Alterung der Gesellschaft haben die Wirtschaft stark verändert. Mit dem Begriff des Gesellschaftsvertrags bezieht sich Minouche Shafik auf eine Reihe von Normen und Regeln, die unser Zusammenleben bestimmen. Ihrer Ansicht nach greift die Diskussion über Umverteilungsmaßnahmen zu kurz. Sie betont die Notwendigkeit, das System der intertemporalen Verteilung zu optimieren, d. h., dass die Menschen als Erwachsene mit ihren Steuern dazu beitragen, dass sie im Gegenzug vor und nach dem Eintritt in das Erwerbsleben versorgt werden.
Heutzutage sind die Arbeitsmärkte sehr flexibel, was dazu führt, dass der Anteil der informellen Arbeit in Industriestaaten fast ein Drittel ausmacht. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen erfordert ein Mindestmaß an sozialer Absicherung für alle, z.B. Mindestlöhne, medizinische Grundversorgung und Zugang zu Bildung. Trotz der Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter tragen Frauen immer noch die Hauptlast bei der frühkindlichen Erziehung und der täglichen Arbeit im Haushalt. Außerdem müssen dringend Anstrengungen unternommen werden, um alle Minderheiten und weniger wohlhabenden Familien zu stärken. In vielen Industrieländern wie den USA, dem Vereinigten Königreich und Deutschland ist ein Rückgang der sozialen Mobilität zu verzeichnen. Laut Shafik ist die Bildung ein Schlüsselbereich, um dieses Problem anzugehen, weshalb sie mehr öffentliche Investitionen in frühkindliche Bildung und lebenslanges Lernen vorschlägt.
All diese Überlegungen gelten auch für den Begriff der Wohlfahrt, doch der neue Gesellschaftsvertrag geht über den Ausbau des Wohlfahrtsstaates hinaus und bezieht auch den privaten Sektor mit ein. Eine Möglichkeit, die Wirtschaft besser in die Teilhabe an den Risiken und Erträgen der Gesellschaft einzubeziehen, wäre eine Erhöhung der Unternehmenssteuern und im Gegenzug die Bereitstellung von mehr öffentlich finanzierter Unterstützung für soziale Leistungen. Ihr Gesamtkonzept der „Vorverteilung“ (engl.: „predistribution“) zielt darauf ab, wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen mit dem Ziel zu kombinieren, Risiken besser kollektiv, aber auch in einer politisch und wirtschaftlich machbaren Weise zu teilen.
In seinem Kommentar zum Buch fügte XAVIER RAGOT die Frage der generationenübergreifenden und globalen Solidarität hinzu. Er schlug vor, das „Wir“ in „Wir schulden einander mehr“ umfassender zu definieren. Als Beispiel nannte er das EU-Projekt SURE (Programm zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken), das einen kleinen Schritt zur Schaffung eines europäischen Wohlfahrtsstaates darstellen könnte. Er wies auch auf den schwierigen politischen Weg hin, der vor uns liegt, wenn es darum geht, die Risiken, insbesondere die Klimarisiken, innerhalb und zwischen den Ländern zu teilen.
Seit seinem Amtsantritt hat Joe Biden Schlagzeilen mit seinem $1,9 Bill. Covid Relief Gesetz gemacht, das er nun mit zusätzlichen 1,2 Billionen Dollar Investment für physische und 3,5 Billionen Dollar für materielle Infrastruktur aufstocken will. Zusammengenommen stellt dies eines der größten Konjunkturpakete in der amerikanischen Geschichte dar. Im Gegensatz zu anderen Konjunkturpaketen, die in der Vergangenheit aufgelegt wurden, sollen Bidens Pakete den unteren und mittleren Einkommensschichten durch eine Reihe von Maßnahmen zugute kommen, darunter Direktzahlungen, eine Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung, die Finanzierung von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen sowie eine Ausweitung von Medicare.
Ist dies Evidenz genug, um zur Erkenntnis zu kommen, dass Joe Biden eine neue Ära der Wirtschaftspolitik, ein neues wirtschaftliches Paradigma eingeleitet hat? Und hat Bidenomics das Potenzial, auch in anderen Volkswirtschaften und fiskalisch konservativen Ländern wie Deutschland, einen Wandel anzustoßen? Dies war die Leitfrage des letzten Panels unseres IX New Paradigm Workshop mit Berkeley-Professor Barry Eichengreen, IMK-Direktor Sebastian Dullien und Michael Burda von der HU Berlin. Moderiert hat Nicola Brandt, Leiterin der OECD Berlin.
Barry Eichengreen zufolge ruht Bidens Konjunkturpaket auf drei Hauptpfeilern: der Überzeugung, dass Schulden und Defizite nicht mehr so ernst zu nehmen sind wie in der Vergangenheit, dass eine expansivere Rolle des Staates gerechtfertigt ist und dass die Wirtschaft heiß laufen darf und sollte, um die Gesamtnachfrage zu stimulieren und Wohlstand besser zu verteilen. Tatsächlich zeigt die Empirie, dass die Löhne in den USA, insbesondere bei den unteren Lohngruppen, in letzter Zeit schneller gestiegen sind als die Inflationsraten. Gründe dafür sind unter anderem die starke Nachfrage nach Arbeitskräften und die Erwerbsquote, die nach wie vor unter dem historischen Trend liegt.
Bidens vorgeschlagenes Konjunkturpaket findet breite Unterstützung in der amerikanischen Öffentlichkeit, die sich der zunehmenden Ungleichheit, der Chancenungleichheit und der Bedeutung der Regierung in Krisenzeiten wie der Corona Pandemie bewusster geworden ist. Eine kürzlich durchgeführte Gallop-Umfrage ergab, dass Bidens geplantes Konjunkturpaket von 63 % der Amerikaner unterstützt wird, darunter 36 % Republikaner. Laut Eichengreen „ist dies die größte Unterstützung, die wir in Amerika jemals bekommen können“. Ein neues Paradigma in Anwendung also?
Eichengreen blieb skeptisch und warnte, dass der Kongress, in dem ländliche Gebiete und ehemalige alte Kohlebergbaugebiete überrepräsentiert sind, nicht die breite öffentliche Meinung für Bidens Gesetzesvorschlag widerspiegelt. Obwohl es einen paradigmatischen Unterschied zwischen Trump und Biden gebe, so Eichengreen, bleibe eine Diskrepanz zwischen der öffentlichen Meinung und den Maßnahmen des Kongresses bestehen. Zumindest im Moment sei ein politisches Maßnahmenpaket, das dem Ausmaß der öffentlichen Gesinnungswandlung gerecht werde, eher unwahrscheinlich. Michael Burda stimmte dem zu und sagte, dass die USA insbesondere in Bezug auf den Klimawandel (noch) keinen Paradigmenwechsel vollzogen hätten. Er sieht Potenzial, einen Wandel politischer Einstellungen durch eine EU- oder chinesische Carbon Border Tax zu stimulieren.
In Bezug auf die Frage, ob die US-Finanzdebatten auf die deutschen Debatten übergreifen und die Politikgestaltung beeinflussen könnten, sieht Sebastian Dullien gemischtes Potenzial. Einige Elemente von Bidenomics, insbesondere die Bedeutung zusätzlicher physischer Infrastrukturinvestitionen, könnten seiner Meinung nach durchaus politische Maßnahmen in Deutschland motivieren. Allerdings gebe es bereits eine parteiübergreifende Mehrheit für stärkere Investitionen in physische Infrastruktur. Aspekte der Schuldendebatte könnten auch die Diskussionen in Deutschland beeinflussen, aber, betonte Dullien, dieser Prozess werde aufgrund des verfassungsrechtlichen Elements der Schuldenbremse eher langsam verlaufen. Dagegen erwarte er, dass das panische Inflationsumfeld in Deutschland eine Ankurbelung der Wirtschaft in ähnlichem Ausmaß wie bei Bidenomics nicht zulasse.
Ob sich Bidenomics zu einem Paradigmenwechsel festigen kann, kann noch nicht abschließend beantwortet werden. Nicht zuletzt hängt die paradigmatische Wirkung davon ab, ob sich politische Entscheidungsträger stärker an öffentlichen Einstellungen orientieren werden.