NEUES LEITMOTIV
Re-live: Die Krise des demokratischen Kapitalismus - mit Martin Wolf und Martin Hellwig
Die liberalen Demokratien befinden sich in einer tiefen Krise. Ob die kriselnde Partnerschaft noch zu retten ist, darüber haben wir mit Martin Wolf und Martin Hellwig diskutiert.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
4. APRIL 2023LESEDAUER
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In den meisten Demokratien der Welt sind antidemokratische Tendenzen heute stark sichtbar. In seinem neuen Buch „The Crisis of Democratic Capitalism“ befasst sich Martin Wolf, Chefkommentator für Wirtschaft bei der Financial Times, mit den Herausforderungen, vor denen die Verbindung von liberaler Wirtschaft und Demokratie steht – eine Partnerschaft, die der Welt immense Vorteile gebracht hat, nun aber vor ihrer härtesten Prüfung seit Jahrzehnten steht.
Wolfs These ist, dass der Rentier-Kapitalismus, der in vielen liberalen Demokratien zu einer wachsenden Ungleichheit geführt hat, die Demokratie unterminiert hat und nun droht, ihr Leitprinzip von „ein Bürger – eine Stimme“ zu „ein Pfund – eine Stimme“ zu ändern. Mit dem Aufkommen von populistischer Demagogie, illiberaler Demokratie und personifizierter Autokratie wird das Konzept des demokratischen Kapitalismus selbst in Frage gestellt. Wir haben ihn eingeladen, seine Thesen in unserem New Economy Short Cut mit dem emeritierten Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Martin Hellwig, zu diskutieren. Kann die Krise des demokratischen Kapitalismus noch gelöst werden?
Martin Wolf begann seinen Vortrag mit einer unerwarteten persönlichen Perspektive. Seinem Vater gelang es, während des Zweiten Weltkriegs von Wien nach London zu fliehen, wobei er viele seiner Familienmitglieder in der darauf folgenden Katastrophe verlor. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Wolf ein Buch über die Krise des demokratischen Kapitalismus schreiben wollte. Wolf unterstellt zwar nicht, dass sich ein ähnlicher Zusammenbruch der Zivilisation wiederholen wird, warnt aber davor, sich auf die Stabilität einer zivilisierten demokratischen Ordnung zu verlassen. Selbst in einem Land wie Deutschland mit einer relativ robusten Demokratie könne die Frage nach der Stabilität der demokratischen Institutionen und ihrer Fähigkeit, angesichts faschistischer Tendenzen erfolgreich zu funktionieren, nicht wichtig genug sein, betonte er.
Wolfs Hauptargument ist, dass es nicht möglich ist, auf Dauer eine Demokratie ohne ein Grundniveau an wirtschaftlichem Wohlstand und Gleichberechtigung aufrechtzuerhalten. Daher müsse jede Demokratie über eine starke und funktionierende Mittelschicht verfügen, die verhindert, dass sich zu viel Macht in den Händen einiger weniger konzentriert. Wolf folgt dabei einem Zitat Aristoteles, der argumentierte: „Es ist daher auch klar, dass das politische Gemeinwesen, das von der Mittelklasse verwaltet wird, das beste ist, und dass es möglich ist, jene Staaten gut zu regieren, in denen die Mittelklasse zahlreich und vorzugsweise stärker als die beiden anderen Klassen ist […], denn indem sie ihr Gewicht hineinwirft, verschiebt sie das Gleichgewicht und verhindert, dass entgegengesetzte Extreme entstehen.“ Wolf befürchtet, dass der demokratische Kapitalismus einer rücksichtslosen autokratischen Herrschaft und einer Rentierklasse von Kapitalisten zum Opfer gefallen ist, denen es mangels Konkurrenz gelingt, auf Kosten anderer übergroße Gewinne und Gehälter zu erzielen, wodurch unsere Freiheiten und unser Wohlstand bedroht werden.
Für Wolf ist insbesondere die Wahl von Trump zum Präsidenten der USA einer der entscheidenden historischen Momente, der den prekären Zustand der liberalen Wirtschaftsdemokratien offenbart. Aber wie konnte es so weit kommen? Um dies zu erklären, geht Wolf Jahrhunderte zurück, bis zum Beginn der Beziehung zwischen Demokratie und Marktwirtschaft. Den beispiellosen Siegeszug der Demokratien im späten 20. Jahrhundert führt Wolf auf die Verbindung von Marktwirtschaft und Demokratie zurück. Er bezeichnet sie als „komplementäre Gegensätze“, die in einer Art sich selbst verstärkenden Harmonie zu koexistieren begannen, basierend auf den gemeinsamen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, der Meritokratie und der Diskussionskultur. Mit der Marktwirtschaft kamen massive Veränderungen, von denen die vielleicht wichtigste die Organisation der Arbeiterklasse als politische Kraft war.
"Märkte schützen vor einer übermäßigen Machtkonzentration durch den Staat, und die Demokratie schützt vor zu viel Reichtum und Macht in den Händen weniger, da sie die Interessen der Mehrheit wahrt."
Heute ist diese fruchtbare Ehe zerbrochen. Viele Faktoren, so Wolf, haben zur Krise des demokratischen Kapitalismus beigetragen, darunter eine rasante Deindustrialisierung, steigende Ungleichheit, die Schwächung der Gewerkschaften, die damit auch die sozialdemokratischen Parteien zu Fall gebracht hat, abnehmender Wettbewerb und der Aufstieg von Monopolen sowie eine unkontrollierte Globalisierung. All dies zusammengenommen führte zu einer Machtkonzentration in den Händen weniger, zum Verfall der Perspektiven der mittleren Arbeiterklasse, zu Abstiegsängsten, Statusängsten und politischem Zynismus, der von rechten Parteien in kulturelle und rassistische Ressentiments umgemünzt wurde. Die große Finanzkrise war der letzte Nagel im Sarg, der viele Menschen davon überzeugt hat, dass ihre Eliten korrupt und inkompetent sind.
Hinzu kommt, dass der Rückgang des Wachstums und der Produktivitätssteigerung in Verbindung mit der Alterung der Bevölkerung zu einer starken Belastung der öffentlichen Finanzen führt. Wenn die Politik zu einem Negativsummenspiel wird, werden politische Entscheidungen immer schwieriger.
Überraschenderweise plädiert Wolf nach seiner düsteren Analyse nicht dafür, elitäre Institutionen abzuschaffen, sondern fordert von den Eliten, sich der Verantwortung zu stellen, die mit ihrem Privileg einhergeht. So plädiert er für eine Erneuerung in Politik und Gesellschaft, in der die Politik wieder von der Idee der Bürgerschaft beseelt ist. Als Menschen sollten wir uns nicht nur als Konsument*innen, Investor*innen oder Arbeiter*innen sehen, sondern als Bürger. Was fehle, sei die Loyalität zu demokratischen Werten, die Sorge um das Wohlergehen der Mitbürger*innen in dieser Demokratie und das Bestreben eine Wirtschaft zu schaffen, die den Interessen der Menschen dient.
Martin Hellwig hingegen äußerte sich weniger optimistisch. „Was ist das größere Problem: Die Delegitimierung von Märkten, Institutionen etc. oder die Narrative darüber?“, fragte er. Er zeigte sich auch besorgt über den schwindenden Respekt vor der Wahrheit und die Zunahme alternativer Fakten, die heute eine entscheidende Rolle in den Medien und im öffentlichen Diskurs spielen. Er zeigte sich auch skeptischer gegenüber der Vorstellung, dass sich die Eliten dem Gedanken der Gleichheit und der Achtung der Freiheit anderer verpflichtet sähen. Historisch gesehen sei der Aufstieg der Demokratien eine Ausnahme gewesen. Was die Eliten dazu bewegte, eine stärkere Beteiligung der Mehrheit zuzulassen, waren nicht hohe moralische Standards, sondern die Notwendigkeit, die Massen während des Ersten und Zweiten Weltkriegs zu mobilisieren.
"Kapitalisten sind Menschen, die nach Macht streben und ihre Fähigkeit, untereinander zu handeln, nutzen, diese Macht zu erlangen, ohne Gleichheit und andere Regeln zu akzeptieren, als jene, denen sie und die anderen Kapitalisten zugestimmt haben."
Er stimmte zwar zu, dass die Globalisierung ein Schlüsselfaktor für den Vormarsch antidemokratischer und populistischer Bewegungen sei. Nicht zuletzt ermöglichte die Globalisierung den nationalen Eliten, ihre politischen Führer zu ihren Gunsten zu beeinflussen, da sie sonst ihr Vermögen ins Ausland verlagern würden. Da die Globalisierung jedoch tief im Kapitalismus der freien Marktwirtschaft verwurzelt sei, stelle dies die gesamte Idee in Frage, dass die Demokratie im Kapitalismus wiederbelebt werden kann.
Wie also Erneuerung schaffen? Das Problem, so Martin Hellwig, sei, dass sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Eliten glauben, das derzeitige System funktioniere zu ihren Gunsten. Ein entscheidender Teil des New New Deal wäre es, höhere öffentliche Investitionen, öffentliche Güter und Infrastruktur zu haben. Diese Idee, so Hellwig, sei in den letzten 25 Jahren verloren gegangen. Hinzu komme, dass es den Regierungen nach Jahren der Sparmaßnahmen und Privatisierungen heute oft an der Fähigkeit mangele, öffentliche Gelder effektiv einzusetzen.
Beide zeigten sich zwar unterschiedlich optimistisch, was die Wiederherstellung der einst fruchtbaren Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie angeht, waren sich aber einig, dass ein Wandel dringend notwendig ist.
"All diese Dinge sind unglaublich schwierig zu tun. Aber wir müssen sie tun."