NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats September
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
MAREN BUCHHOLTZ & THOMAS FRICKEVERÖFFENTLICHT
10. OKTOBER 2024LESEDAUER
5 MIN.Was kostet eine sichere, lebenswerte und nachhaltige Zukunft? Und wie finanzieren wir diese?
Dezernat Zukunft
In seinem kürzlich veröffentlichen Bericht an die EU-Kommission hat Mario Draghi Europas Staatenlenker dazu aufgefordert, mehr Geld für moderne Infrastruktur, eine bessere Wettbewerbsfähigkeit und mehr Klimaschutz bereitzustellen. Welchen Finanzierungsbedarf es in Deutschland diesbezüglich gibt, haben Experten und Expertinnen des Dezernats Zukunft geschätzt: danach braucht es bis 2030 etwa 782 Milliarden Euro für die Modernisierung des Landes und die Krisenbewältigung. Anders als in jüngeren Schätzungen allein zum Bedarf öffentlicher Investitionen des BDI (376 Milliarden) und des IMK (584 Milliarden) rechnen die Dezernat-Forscher auch den Gesundheitssektor, die Forschung, die Verteidigung sowie weitere Ausgaben für innere und äußere Sicherheit ein. Auf Klimaschutz und -anpassung entfällt der größte Anteil (245 Milliarden). Für Digitalisierung sowie Bildung und Forschung werden jeweils ca. 140 Milliarden vorgesehen, weitere Schlüsselbereiche sind Verkehr (165 Milliarden) und Verteidigung (103 Milliarden). Ein Teil dieses Bedarfs ließe sich nach Einschätzung der Autoren dadurch gewährleisten, dass die erlaubte Finanzierung im Rahmen der Schuldenbremse reformiert wird (Stichwort: Konjunkturkomponente). Wie die Experten in einem getrennten Policy Paper darlegen, bräuchte es dazu aber auch zusätzliche Kreditaufnahme. Das wäre auch wirtschaftlich sinnvoll, da die Investitionen in die Modernisierung des Landes zu höherem Wirtschaftswachstum und so auch langfristig zu niedrigeren Schuldenquoten führen würden. Dazu bräuchte es allerdings dann auch eine Reform der Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form.
Hohe und steigende institutionelle Konzentration in den Wirtschaftswissenschaften
Richard B. Freeman, Danxia Xie, Hanzhe Zhang, Hanzhang Zhou
Einer neuen Untersuchung zufolge ist die Spitzenforschung in den Wirtschaftswissenschaften deutlich stärker konzentriert als in anderen Disziplinen. Eine Autorengruppe um Richard B. Freeman hat dazu die akademischen Laufbahnen von etwa 6.000 Preisträgern aus 18 Bereichen der Natur-, Ingenieur- und Sozialwissenschaften ausgewertet. Die weltweit renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler arbeiten zu einem großen Teil danach an einigen wenigen US-Eliteuniversitäten (Harvard, University of Chicago, MIT, Stanford, Princeton, Yale, UC Berkeley und Columbia University). Wirtschaftsnobelpreisträger verbringen im Durchschnitt die Hälfte ihrer akademischen Zeit an diesen acht Einrichtungen, die nur drei Prozent aller Einrichtungen mit international renommierten akademischen Auszeichnungen ausmachen. Interessanterweise ist die Konzentration in allen anderen Bereichen gering und tendenziell rückläufig, was darauf schließen lässt, dass die Wissensproduktion in der Wissenschaft generell dezentraler wird. Im Gegensatz dazu weisen die Wirtschaftswissenschaften eine hohe und zunehmende institutionelle Konzentration auf. Laut der Autoren könnte dieser Trend die Forschung zu Themen, die nicht dem Mainstream entsprechen, weiter einschränken und die Richtung künftiger wirtschaftswissenschaftlicher Forschung beeinflussen.
Klassenbewusstsein und Wahlentscheidung. Klasse als politischer Kompass?
Linus Westheuser und Thomas Lux
Nicht erst seit den Landtagswahlen in Ostdeutschland drängt sich die Frage auf, wie Politiker das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen können. Diese FES-Studie zeigt auf, dass insbesondere Mitte-Links-Parteien ihr traditionelles Wählerklientel zunehmend an die AfD verlieren. In einer Befragung von etwa 5.000 Bürgern im vergangenen Jahr fanden die Autoren heraus, dass die AfD in der Arbeiterschicht die meiste Zustimmung erfuhr. Seit 2014 hat sich der Stimmenanteil dieser Schicht bei der SPD halbiert, während sich der Wähleranteil der AfD im selben Zeitraum mehr als verdreifacht hat. Auch in anderen europäischen Staaten haben klassische Arbeiter und Arbeiterinnen seit den 1990ern zunehmen den traditionellen Parteien den Rücken zugekehrt, um verstärkt radikalere rechte Parteien zu wählen.
Verteilungseffekte heterogener CO2-Preise in der EU
Magnus Merkle und Geoffroy Dolphin
Anhand neuer Daten zur Verteilungswirkung von CO2-Preisen legen IWF-Forscher dar, dass der europäische Emissionshandel bisher regressiv wirkt, also schlechter Gestellte eher benachteiligt. Da sie einen größeren Anteil ihres Einkommen für CO2-intensive Waren (z.B. Energie, Lebensmittel) ausgeben, sind einkommensschwache Haushalte überproportional betroffen. Dagegen ist höherpreisiger Konsum (z.B. Flugreisen, Importgüter) oft vom Emissionshandel ausgenommen. Damit Klimaschutz zukünftig trotz steigender CO2-Preise die unteren und mittleren Einkommen entlastet, empfehlen die Autoren eine Ausweitung des Emissionshandels auf mehr Sektoren und eine bessere internationale Abstimmung auf europäischer und möglichst auch auf globaler Ebene. Außerdem schlagen sie einen Kompensationsmechanismus vor, bei dem die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung an einkommensschwache Haushalte rückverteilt werden. All diese Maßnahmen könnten nach Ansicht der Autoren zu einer progressiven Verteilungswirkung des Klimaschutzes beitragen.
CO2-Bepreisung: Akzeptanz und Kostenwahrnehmung nach der Preiserhöhung 2024
Jan Behringer, Lukas Endres und Maike Korsinnek
Zweifel an Sinn und Zweck, die Klimapolitik auf die Bepreisung von CO2 zu fokussieren, liefert auch eine Umfrage in Deutschland. Laut der IMK-Studie lehnen drei Viertel der Befragten, insbesondere einkommensschwache Haushalte, den CO2-Preis im Verkehrs- und Gebäudesektor ab. Außerdem überschätzt die Mehrheit der Befragten die aktuelle Mehrbelastung und unterschätzt die zukünftig erwartete Verteuerung bei Benzin, Diesel, Heizöl und Gas. Im Durchschnitt schätzten die Befragten die aktuelle Mehrbelastung zweimal so hoch ein (400 Euro) wie die tatsächlichen Kosten (200 Euro). Den IMK-Modellrechnungen zufolge könnte die durchschnittliche Belastung der Haushalte ab 2027 im reformierten Europäischen Emissionshandel (ETS 2) bei etwa 850 Euro liegen, wenn der CO2-Preis auf etwa 200 Euro pro Tonne steigt. In der Umfrage wurde diese Kostenentwicklung mit 550 Euro deutlich unterschätzt.
Damit Klimaschutz nicht weiter an Rückhalt in der Bevölkerung verliert, raten die Autoren zu einem Kompensationsmechanismus, der untere und mittlere Einkommensgruppen entlastet, sowie zu mehr öffentlichen Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz. Die Frage, wie der Ausgleich gestaltet werden sollte, um einen progressiven Verteilungseffekt zu erzielen, scheint jedoch nicht trivial. In seiner bisher diskutierten Form einer Pro-Kopf-Auszahlung würde das Klimageld zwar einkommensschwache Verbraucher unterstützen. Eine IMK-Studie zum Wärme- und Verkehrssektor zeigt allerdings, dass Haushalte in der Mitte der Einkommensverteilung, wie z.B. einkommensschwache Hauseigentümer, die keine klimafreundliche Sanierung und Heizungstausch finanzieren können, verhältnismäßig stark betroffen wären.