NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats Mai
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
11. MAI 2022LESEDAUER
8 MINKapitalistische Systeme und Einkommensungleichheit
Marco Ranaldi, Branko Milanović
Das Ausmaß der Ungleichheit und die am besten geeigneten Instrumente zu ihrer Bekämpfung sind bis heute umstritten. In einem kürzlich erschienenen Beitrag stellen Ranaldi und Milanovic ein neues Maß für die Einkommensungleichheit vor, das eine Messung der Zusammensetzung und des Ausmaßes der Ungleichheit in verschiedenen Formen kapitalistischer Gesellschaften ermöglicht. Die Bewertung der Ungleichheit konzentriert sich in der Regel auf die Einkommensungleichheit zwischen einzelnen Personen. Im Gegensatz dazu bewerten Ranaldi und Milanovic anhand von Daten aus 47 Ländern aus den Jahren 1995-2018 Ungleichheit in der faktoriellen (Kapital oder Arbeit) Zusammensetzung. Daraus leiten sie einen neuartigen Vorschlag für eine effektive Einkommenssteuer ab. Zunächst unterscheiden die Autoren zwei Formen kapitalistischer Wirtschaftssysteme: Das erste ist der klassische Kapitalismus, bei dem eine Gruppe von Menschen ihr Einkommen ausschließlich aus dem Besitz von Vermögenswerten bezieht, während das Einkommen der anderen Gruppe ausschließlich aus Arbeitstätigkeiten stammt. Dieses System ist in der Regel mit einem hohen Maß an Einkommensungleichheit verbunden. Die andere Variante ist der liberale Kapitalismus, eine Form des Kapitalismus, bei der ein erheblicher Prozentsatz der Menschen sowohl Einkommen aus Kapital als auch aus Arbeit bezieht (Milanovic 2019). Ranaldi und Milanovic stellen fest, dass der klassische Kapitalismus im Durchschnitt tendenziell mit einer höheren Einkommensungleichheit verbunden ist als der liberale Kapitalismus. Abschließend schlagen sie eine neuartige Taxonomie der Kapitalismusvarianten vor, die beide Ungleichheitsdimensionen berücksichtigt und eine stärkere empirische und verteilungspolitische Fokussierung der Ungleichheitsdebatte in verschiedenen Regionen und Ländern ermöglicht.
Intellektuelle Rivalität in der amerikanischen Wirtschaftswissenschaft: sozialer Zusammenhalt zwischen den Generationen und der Aufstieg der Chicago School
Lasse Folke Henriksen, Leonard Seabrooke, Kevin L Young
Seit Jahrzehnten ist der Neoliberalismus die vorherrschende Doktrin in der Wirtschaft und hat ganze Gesellschaften umgestaltet. Wie konnte diese Doktrin zum Mainstream und zu beispiellosem Prestige aufsteigen? Eine kürzlich erschienene Studie von Lasse Folke Henriksen, Leonard Seabrooke und Kevin L. Young wirft einen neuen Blick auf diese Frage, indem sie sich auf die intellektuelle Rivalität innerhalb verschiedener Denkschulen in der US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaft konzentriert: die neoliberalen Pioniere der Chicago School of Economics und die „Charles River Group“ (Harvard University und Massachusetts Institute of Technology), die Hochburg der Keynesianer. Die Studie stützt sich auf die Arbeiten von Randall Collins über den sozialen Zusammenhalt zwischen Generationen als treibende Kraft hinter intellektuellen Netzwerken.
Anhand von qualitativen und quantitativen Daten aus einem neuen Datensatz aus Archiven, Memoiren und bibliometrischen Daten aus den Jahren 1960 bis 1985 argumentieren die Autoren, dass der Aufstieg der Chicago School auf Sozialisierungsmechanismen beruhte, die von einer Gruppe von Eliteprofessoren und ihren Doktoranden gefördert wurden. Die Ergebnisse deuten auf starke Formen des sozialen Zusammenhalts zwischen Eliteprofessoren und ihren Studenten hin, die sie von ihren intellektuellen Konkurrenten aus Charles River unterschieden und die effektive Übertragung und Verbreitung gewünschter Wertorientierungen über Generationen hinweg garantierten. Zu den wichtigsten Mechanismen des sozialen Zusammenhalts gehörten die intensive Ausbildung, die Debatte innerhalb einer Doktrin und die selektive Isolierung. Dies führte unter anderem dazu, dass sich die Chicagoer Professoren gegenseitig zitierten, während die Harvard- und MIT-Professoren zersplitterten. Ab Mitte der 1970er Jahre zitierten die Charles-River-Studenten eher die Chicagoer Professoren als ihre eigenen. Der im Vergleich zu den intellektuellen Konkurrenten überlegene soziale Zusammenhalt spielte also eine entscheidende Rolle bei der Ermöglichung der tektonischen epistemischen Verschiebung von der keynesianischen Dominanz zum Mainstreaming neoliberaler Ideen in den 1970er und 1980er Jahren.
Paradigms and policies: the state of economics in the German-speaking countries
Jakob Kapeller, Stephan Puehringer, Christian Grimm
Wie ausgewogen ist die institutionelle und paradigmatische Struktur der deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaften? Eine neue Studie von Jakob Kapeller, Stephan Puehringer und Christian Grimm geht dieser Frage auf den Grund. Anhand einer indikatorengestützten Analyse der Lebensläufe, Forschungsprofile und Daten zu Mitgliedschaften und Verbänden von mehr als 700 Professoren der Wirtschaftswissenschaften an deutschen, österreichischen und schweizerischen Universitäten bewerten die Forscher deren paradigmatische Ausrichtung sowie den Grad ihres politischen Engagements in verschiedenen Dimensionen.
Ihre Ergebnisse deuten auf eine erhebliche ideologische Voreingenommenheit in der öffentlichen Debatte und der Wirtschaftspolitik in Deutschland hin, die im letzten Jahrzehnt vorherrschte. Dies ist sowohl auf eine starke paradigmatische Homogenität unter den Ökonomen in Deutschland als auch auf die asymmetrische Positionierung pluralistischer/heterodoxer Perspektiven im Vergleich zu ordoliberalen Ansichten in politischen Kontexten zurückzuführen. Während heterodoxe Forscher im Vergleich zu ihrer geringen Gesamtzahl an Ökonomen überproportional häufig Interesse an politisch relevanten Themen wie der globalen Finanzkrise bekunden und daran arbeiten, bleiben sie in institutionalisierten politischen Kontexten unterrepräsentiert, was, so die Autoren, darauf hindeutet, dass „intellektuelle Nähe zu traditionellen deutschen Haltungen in der Wirtschaftspolitik mit größerer politischer Sichtbarkeit und Einflussnahme belohnt wird“. Die Studie endet mit der Feststellung, dass neuere Entwicklungen auf eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen kritischen und etablierten Stimmen hindeuten, wobei kritische Stimmen in öffentlichen Debatten an Bedeutung gewinnen.
Vertrauen und Geldpolitik
Paul de Grauwe, Yuemei Ji
Während viele makroökonomische Standardmodelle immer noch von rationalen Erwartungen ausgehen, ist die Bedeutung von Erwartungen jenseits des Rationalen und damit auch von Gefühlen wie Vertrauen, das Wirtschaftsakteure empfinden, eminent. Das Vertrauen in ein stabiles wirtschaftliches und politisches Umfeld, in die Rechtsstaatlichkeit sowie in die Qualität und Glaubwürdigkeit von Institutionen hat tiefgreifende Auswirkungen auf das Verhalten der Wirtschaftsakteure. So spielt beispielsweise die Glaubwürdigkeit eines von einer Zentralbank verkündeten Inflationsziels eine wichtige Rolle für die Investitionsentscheidungen der Wirtschaftsakteure und für die Wirksamkeit der Geldpolitik. In einem kürzlich erschienenen Beitrag von Paul de Grauwe und Yuemei Ji wird nun die Analyse des Vertrauens in makroökonomischen Modellen und dessen Einfluss auf die Übertragung negativer Nachfrage- und Angebotsschocks systematischer verfolgt. Dabei gehen die Autoren von zwei Dimensionen des Vertrauens aus: zum einen vom Vertrauen in die Glaubwürdigkeit einer Institution und ihrer Ziele, z. B. des Inflationsziels der Zentralbank, und zum anderen vom Vertrauen in die Zukunft, gemessen am Grad des Optimismus hinsichtlich der künftigen Wirtschaftstätigkeit. Anhand eines makroökonomischen Verhaltensmodells, bei dem davon ausgegangen wird, dass der Einzelne das zugrunde liegende Modell nicht versteht und die Verteilung der Schocks, die auf die Wirtschaft einwirken, nicht kennt, zeigen sie, dass das Vertrauen eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der Entwicklung spielt, die eine Wirtschaft nach einem großen negativen Nachfrage- oder Angebotsschock nimmt. In den schlechten Trajektorien bricht das Vertrauen zusammen, in den guten Trajektorien ist es nicht betroffen. Bei Angebotsschocks ist der Effekt insgesamt stärker. Auch die Ausgangsbedingungen spielen eine Rolle. Die Ergebnisse liefern interessante Anregungen für politische Entscheidungsträger und Institutionen, da der Aufbau institutionellen Vertrauens ein Hebel sein kann, um eine Wirtschaft widerstandsfähiger gegen exogene Schocks zu machen.
Equality and the Horizon of Human Expectations
Darrin M. McMahon
Es gibt immer mehr Belege dafür, dass die Vermögens- und Einkommensungleichheit in fast allen fortgeschrittenen Volkswirtschaften in den letzten vier Jahrzehnten dramatisch zugenommen hat. Dennoch hat sich die Annahme hartnäckig gehalten, dass sich die Menschheit insgesamt auf dem Weg zu mehr Equality befindet. Ein Artikel von Darrin McMahon in der Zeitschrift Global Intellectual History unternimmt nun den Versuch, die Wurzeln dieser Annahme und die Gruppen, die sie verstärkt und in einen umfassenden, oft weitgehend ungeprüften Erwartungshorizont verwandelt haben, zurückzuverfolgen. Dabei wird herausgearbeitet, wie Intellektuelle, Ökonomen und politische Entscheidungsträger Erwartungen an die Zukunft der (Un-)Gleichheit geweckt haben, die oft im Widerspruch zu den tatsächlichen Trends und Daten standen. Dies ermöglicht eine klarere Vorstellung vom starken Wiederaufleben der Ungleichheit in unserer Zeit und eine effektivere Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und der wachsenden gesellschaftlichen Unzufriedenheit, die steigende Ungleichheitsquoten hervorrufen.