NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats April
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
MAREN BUCHHOLTZVERÖFFENTLICHT
10. APRIL 2022LESEDAUER
5 MIN.Globalization and Factor Income Taxation
Pierre Bachas, Matthew H. Fisher-Post, Anders Jensen, Gabriel Zucman
Die Autoren haben einen neuen, einzigartigen Datensatz erstellt, der 150 Länder des letzten halben Jahrhunderts abdeckt, indem sie die Daten zu den Staatseinnahmen aus den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen und von verschiedenen internationalen Einrichtungen, darunter die Revenue Statistics der OECD, der Government Revenue Dataset der UN und die Historical Government Finance Statistics des IWF, harmonisiert haben. Bachas et al. (2022) stellen fest, dass die effektive Besteuerung von Kapital und Arbeit seit 1965 konvergiert. Die neuen Statistiken weisen eindeutig auf eine insgesamt sinkende Tendenz bei der Kapitalbesteuerung und eine steigende Tendenz bei der Einkommensbesteuerung hin. Darüber hinaus zeigen die Autoren, dass die Globalisierung ab den 1980er Jahren unterschiedliche Auswirkungen auf die Steuersysteme in der Welt hatte: Während die Länder mit hohem Einkommen in einem „Wettlauf nach unten“ die Kapitalsteuersätze senkten, konnten die Entwicklungsländer die Kapitalsteuereinnahmen insgesamt angleichen, was wahrscheinlich auf die Handelsintegration zurückzuführen ist.
Changing accounts of the relationship between capitalism and democracy: From incompatibility to partnership, and back?
Max Krahé
Die Idee einer symbiotischen Beziehung zwischen Kapitalismus und Demokratie (oder: westliche „Modernisierungstheorie“) wird zunehmend in Frage gestellt. Ein neues Arbeitspapier des ifso gibt einen Überblick über die Entwicklung des Denkens über diese Beziehung. Max Krahé geht auf die unterschiedlichen Konzepte u.a. von Pareto, Polanyi, Schumpeter, Smith, Mill und Marx ein und erläutert auch den jeweiligen historischen und politischen Kontext. Er zeigt, dass bereits vor Marx Gelehrte wie Adam Smith und David Hume im 18. Jahrhundert auf eine mögliche Unvereinbarkeit von Demokratie und Kapitalismus hingewiesen haben. Während in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Globalisierung und Demokratisierung als gleichzeitige Trends erschienen, die uns das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1992) erwarten ließen, hat sich seit der globalen Finanzkrise ein Narrativ herausgebildet, demzufolge der moderne Kapitalismus möglicherweise nicht inhärent demokratisch ist. Laut Krahé wird in immer neueren Veröffentlichungen argumentiert, dass die Versprechen westlicher demokratischer Staaten in mancher Hinsicht hinter ihrem Ideal zurückbleiben, was sich in der zunehmenden politischen Macht wirtschaftlicher Eliten und dem Wiederauftreten zunehmender Ungleichheit als politischer Faktor zeigt.
What if? The economic effects for Germany of a stop of energy imports from Russia
Rüdiger Bachmann, David Baqaee, Christian Bayer, Moritz Kuhn, Andreas Löschel, Benjamin Moll, Andreas Peichl, Karen Pittel, Moritz Schularick
Vor dem Hintergrund eines drohenden plötzlichen Stopps der russischen Gaslieferungen nach Europa, der sich entweder durch ein von der Europäischen Union verhängtes Energieembargo oder durch ein von der Russischen Föderation verhängtes Exportverbot vollziehen könnte, versuchen Ökonomen, die möglichen wirtschaftlichen Folgen zu bewerten. Zu den derzeit am meisten öffentlich diskutierten Studien in Deutschland gehört Bachmann et al. (2022). Aufbauend auf dem multisektoralen Modell einer offenen Volkswirtschaft von Baqaae & Farhi (2021) schätzen die Autoren den BIP-Verlust für die deutsche Wirtschaft auf 0,5% bis 3%. Eine Analyse von Bayer et al. am DIW, die die Analyse auf Europa ausweitet, kommt ebenfalls zu einer Schätzung von 3%, während Behringer et al. am IMK gar einen Rückgang von 6% für plausibel halten. Diese hohe Abweichung der Schätzungen resultiert aus sehr unterschiedlichen Annahmen über den Grad der Substitutionselastizität. So sagen Behringer et al. eine viel tiefere Rezession mit höherer Arbeitslosigkeit und höherer Inflation voraus und argumentieren mit den potenziellen Kaskadeneffekten von Unterbrechungen der Lieferkette und der Nichtverfügbarkeit von Zwischenprodukten. Sie argumentieren, dass die Umstellung auf andere Energieformen aufgrund physikalischer Beschränkungen in einigen Sektoren einfach keine Option ist. Die Bandbreite der Schätzungen könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Wirtschaftswissenschaftler selbst derzeit mit einem hohen Maß an Unsicherheit arbeiten, wie unter anderem von Veronika Grimm, Michael Hüther und Tom Krebs dargelegt wurde.
An economical business-cycle model
Pascal Michaillat, Emmanuel Saez
Michaillat und Saez bieten ein neues Konjunkturmodell an, das Wohlstandsakkumulation, eine Liquiditätsfalle und Arbeitslosigkeit beinhaltet. In Anlehnung an Paul Krugman (2018), der meinte, dass das IS-LM-Modell in einigen Fällen zur Bewertung der Politik besser geeignet sein könnte als DSGE-Modelle, versuchen die Autoren, ein ‚wirtschaftliches‘ (d.h. überschaubares) Modell zu erstellen, das die Auswirkungen politischer Veränderungen und exogener Schocks durch vergleichende Statik in einem AS-AD-Rahmen erklärt. In diesem Modell werden die Konjunkturzyklen hauptsächlich durch die Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und Wohlfahrt erklärt. Die Arbeitslosenquote ergibt sich aus V auf dem Arbeitsmarkt (modelliert durch eine Matching-Funktion) und der ‚Keynesianischen Komponente‘ der Arbeitslosigkeit, d. h. einer unzureichenden Gesamtnachfrage. Die Inflationsrate bleibt konstant, was als soziale Norm interpretiert wird, und die Zentralbank verfolgt in der Liquiditätsfalle eine Zinsbindung. Das gesamtwirtschaftliche Angebot wird durch eine Beveridge-Kurve bestimmt, die das umgekehrte Verhältnis zwischen der Arbeitslosenquote und der Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze modelliert. Die Gesamtnachfrage wird durch eine Euler-Gleichung bestimmt, die es den Haushalten ermöglicht, im Gegensatz zur üblichen Annahme der intertemporalen Konsumglättung Vermögen zu akkumulieren. Michaillat und Saez gehen davon aus, dass die Gesamtnachfrage durch eine Vermögenssteuer angekurbelt werden kann, wenn die Zinssätze über längere Zeiträume an der unteren Nullgrenze verharren. Da dem Modell bisher wichtige Eigenschaften wie Staatsausgaben, Unternehmen, endogene Inflation und endogenes Arbeitsangebot fehlen, wäre es interessant zu sehen, ob es weiterentwickelt wird.
Who Set Your Wage?
David Card
In seinem Literaturüberblick zum Thema der monopsonistischen Lohnbildung weist auf David Card auf offene Fragen für zukünftige Forschungsarbeiten hin. Card zufolge erklären die meisten Lohnmodelle steigende Arbeitsangebotskurven entweder mit Marktfriktionen in der Arbeitssuche oder mit idiosynkratischen Präferenzen der Arbeitssuchenden. Künftige Lohnmodelle sollten versuchen, diese beiden Aspekte zu kombinieren. Darüber hinaus sollten die Annahmen noch weiter an die Realität angeglichen werden, wie z.B. die Annahme von Mindeststandards bezüglich der Qualifikationen von Bewerbern, das Vorliegen unvollkommener Information und die Annahme, dass Unternehmen sich bei der Lohnsetzung an der Entwicklung der branchenspezifischen Löhne orientieren. Darüber hinaus empfiehlt Card generell, dass sich Arbeitsökonomen stärker mit der Analyse der Lohnfindung befassen. Bislang, so argumentiert er, hätten die Ökonomen Löhne als durch frei durch den Arbeitsmarkt vorgegeben betrachtet, weshalb bisher in Lohnmodellen die Marktmacht der Arbeitgeber weitgehend vernachlässigt wurde.