NEUES LEITMOTIV

Deutschlands verwirrte Angst vor Hyperinflation

Eine neue Studie offenbart ein verzerrtes deutsches Verständnis der Weimarer Krisen.

VON

DAVID KLÄFFLING

VERÖFFENTLICHT

20. APRIL 2021

LESEDAUER

2 MIN

Die Inflationsangst ist zurück. Seit ein paar Wochen warnen Experten weltweit vor möglichen Gefahren. Und nirgends scheint die Sorge so groß wie in Deutschland – wie fast immer. Warum aber ist das bei den Deutschen so? Eine neu erschienene Studie von Lukas Haffert, Nils Redeker und Tobias Rommel versucht aufzuklären, wo die spezifisch deutsche Aversion gegen Inflation herrühren könnte. Eine kürzere Version des Artikels in deutscher Sprache finden Sie hier.

Es gibt kaum eine deutsche Diskussion über Inflation ohne zumindest eine Anspielung auf die Hyperinflation in der Weimarer Republik.

Die Autoren gingen der Frage nach, woran die Menschen heute dabei wirklich denken, und kommen zu dem Ergebnis, dass das kollektive ökonomische Gedächtnis an Weimar verzerrt ist. Wie die Umfragen ergaben, unterscheiden viele Deutsche nicht zwischen der Hyperinflation und der ein paar Jahre später stattfindenden Weltwirtschaftskrise. Die Weimarer Wirtschaftsgeschichte wird als eine große Krise empfunden, in der sowohl Preise als auch die Massenarbeitslosigkeit rasant gestiegen sind. Wie in der Grafik zu sehen, waren Hyperinflation und Große Depression jedoch voneinander getrennte Ereignisse. Auch stieg die Inflationsrate nicht parallel zur Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil explodierte die Zahl der Arbeitslosen während der Phase der Deflation.

Diese fehlerhafte Geschichtswahrnehmung hat wichtige Implikationen. Wenn hohe Arbeitslosigkeit und Inflation als zwei Seiten einer Krise verstanden werden, gibt es auch keine Wahl zwischen den einen und dem anderen, wie es die Empirie lehrt. In den USA ist demgegenüber die Große Depression der 1930er-Jahre präsent und prägt noch heute die Politik. Interessanterweise ist die verzerrte deutsche Wahrnehmung kein Phänomen niedrigerer Bildung, sondern besonders unter hochgebildeten und politisch interessierten Studienteilnehmern verbreitet. Die Gruppe, die die öffentliche Debatte anführt und die Geldpolitik der EZB am intensivsten verfolgt, besteht also aus denjenigen, die am wahrscheinlichsten eine undeutliche Erinnerung an die Weimarer Wirtschaftsgeschichte aufweisen.

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