NEUES LEITMOTIV

Neugewichtung der Macht? Die Rolle von Gewerkschaften und Mindestlöhnen

Muss die Arbeitnehmerseite (weiter) gestärkt werden? Darüber diskutierten Anke Hassel, Stefan Körzell, Christoph Schmidt, Oliver Denk und Manuela Barišić.

VON

DAVID KLÄFFLING

VERÖFFENTLICHT

7. OKTOBER 2022

LESEDAUER

4 MIN

Globalisierung, neue Technologien und Deregulierung haben die Macht der Arbeitnehmer lange Zeit geschwächt. Ist jetzt eine umfassende Neuausrichtung im Gange – mit einer schwächer werdenden Globalisierung, mehr Regulierung wie durch Mindestlöhne, und überraschenden demografischen Trends, z.B. dem Fachkräftemangel? Ist dies eine begrüßenswerte Entwicklung? Und was können und sollten Gewerkschaften und Regierungen tun?

Darüber diskutierten Anke Hassel (Hertie School), Stefan Körzell (DGB-Vorstand), Christoph Schmidt (Direktor RWI Essen), Oliver Denk (OECD) und Manuela Barišić (IZA Bonn) bei dem XI. New Paradigm Workshop zum Thema Good Jobs.

Zu Beginn stellte Oliver Denk ein Kapitel aus dem neusten Beschäftigungsausblick (Employment Outlook) der OECD vor, in dem es explizit um Marktmacht und Konzentration auf dem Arbeitsmarkt geht. Ein vor knapp 30 Jahren undenkbares Thema bei der OECD, als noch Flexibilisierung, Liberalisierung und Deregulierung den Ton angaben. Heute lautet die Politikempfehlung der OECD hingegen: Einschränkung der Macht der Arbeitgeberseite (für mehr Wettbewerb sorgen und Kartellrecht verschärfen), Stärkung der Arbeitnehmermacht (Mindestlohn, Tarifbindung, Home-Office).

Anke Hassel stimmte der Grunddiagnose der OECD zu, dass es jetzt nicht mehr wie in den 90ern darum gehen darf, Marktelemente in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sondern verstärkt inklusive und gute Jobs und eine höhere Tarifbindung im Vordergrund stehen müssen. Sie lieferte neben der Marktmacht noch einen weiteren Grund für diesen Paradigmenwechsel: erhöhte Lohnspreizung und wachsender Niedriglohnsektor aufgrund aktiver Vernachlässigung von Tarifbindungen und Mindestlöhnen.

Das DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell betonte die Attraktivität kollektiver Lohnfindung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden und argumentierte, dass der Mindestlohn eigentlich nur zweitbestes Mittel sei, das sinkende Tarifbindungen notwendig gemacht hätten.

Christoph Schmidt stellte die Validität des OECD-Berichts für einzelne Länder in Frage und warnte vor einer Vermischung von Korrelation und Kausalität. Er widersprach der Grunddiagnose, dass die Macht bei den Arbeitgebern liege und auch, dass es ein Problem mit guter Arbeit gebe. Durch den demographischen und strukturellen Wandel würde die Arbeitnehmerseite sowieso gestärkt.

Die guten Jobs sind doch schon weitgehend da. Die müssen doch gar nicht erst zurückkommen.
Christoph Schmidt (RWI)

Manuela Barišić ging auch noch einmal auf den arbeitsökonomischen Paradigmenwechsel ein. Weltweit sinkende Reallöhne vor allem für untere Einkommensgruppen sorgten dafür, dass während Anfang der 2000er noch die Quantität der Arbeitslosigkeit im Vordergrund stand, gebe es jetzt ein großes Qualitätsproblem. Der Niedriglohnsektor habe zwei Funktionen: Eingliederung in den Arbeitsmarkt und Aufstieg in dem Arbeitsmarkt. Während die erste Funktion gut funktioniert habe, seien diese Menschen häufig in der Niedriglohnfalle gefangen geblieben. Außerdem betonte sie den qualitativen Fortschritt in der ökonomischen Forschung, die gezeigt habe, dass Mindestlöhne ökonomisch sinnvoll sein können, indem sie Ressourcen zu produktiveren Betrieben verlagern.

Wir haben eine gute Arbeitsmarktforschung, die mit Mythen aufräumt, wie beispielsweise der einfache Mythos: Mindestlohn schafft Arbeitslosigkeit.
Manuela Barišić (IZA)

Anschließend wurde die Frage von Christoph Schmidt diskutiert, warum dem Niedriglohnsektor und der Lohnungleichheit überhaupt so eine Bedeutung beigemessen werde und nicht die sekundäre Einkommensverteilung (nach wohlfahrtsstaatlichen Transfers) im Vordergrund stehe. Es würde dann zu einem Problem, wenn Unternehmensgewinne und Privatvermögen stark anwachsen würden, ohne dass davon die Arbeitnehmerseite profitieren würde, und der Staat dann diese Lücke ausfüllen muss.

Es müssen doch die Unternehmen sein, die Löhne bezahlen, damit Familien gut leben können, und nicht der Staat über seine Sozialversicherungssysteme. Die Regierungen haben verstanden, dass sie ihren Sozialstaat nur finanzieren können, wenn auch die Arbeitgeber über höhere Löhne einen Beitrag dazu leisten. Sonst muss der Wohlfahrtsstaat dafür aufkommen, was die Lohnpolitik nicht leistet.
Anke Hassel (Hertie School)

Als Schlussrunde haben die Panelisten noch einmal in kurzen Stichworten gesammelt, welche Politikmaßnahmen aus ihrer Sicht wichtig für die Schaffung von Good Jobs sind (Christoph Schmidt musste das Panel schon etwas früher verlassen).

Oliver Denk:

  • Arbeitszeitverlängerung erleichtern
  • Tarifbindung stärken
  • Zielgerichtete Hilfen bei der Energiekrise

Manuela Barišić:

  • Löhne stärken
  • Evidenzbasierte Arbeitsmarktforschung
  • Gute Arbeitsmarktdaten

Stefan Körzell:

  • Bundeseinheitliches Vergabegesetz
  • Stärkung der Mitbestimmung
  • Verbot von Ausgründung von Unternehmen und Untermauerung von Tarifbindungen

Anke Hassel:

  • Gleichstellung von Männern und Frauen über Ehegattensplitting und Kinderbetreuung
  • Niedriglohnsektor verkleinern
  • Bildungsmaßnahmen und Weiterbildung

Die ganze Diskussion im Re-Live

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