NEUES LEITMOTIV
Die New Paradigm Papers des Monats März
Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.
VON
SONJA HENNENVERÖFFENTLICHT
7. MÄRZ 2022LESEDAUER
5 MINTowards New Fiscal Rules in the Euro Area?
Catherine Mathieu, Henri Sterdyniak
Zwei Jahre globale Pandemie und neue Sanktionen und Wirtschaftshilfen wegen des russischen Krieges gegen die Ukraine haben die Staatsverschuldung in Europa ansteigen lassen. Die EU-Kommission reagiert auf diese Entwicklung und hat kürzlich angekündigt, dass die europäischen Schuldenregeln bis 2023 zumindest teilweise ausgesetzt bleiben könnten. Laut EU-Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis wird die sogenannte Zwanziger-Regel für hochverschuldete Staaten auch im nächsten Jahr nicht angewendet [1]. Sie wurde 2020 ausgesetzt, um den Ländern mehr Spielraum zu geben, um die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie abzufedern. Die Debatte um die Rückkehr der Schuldenregeln oder ihrer möglichen Reformen ist in Brüssel so präsent wie eh und je. In einem kürzlich erschienenen Beitrag der OFCE-Ökonomen Catherine Mathieu und Henri Sterdyniak wird die Forderung nach einer Reform der fiskalischen Regeln des Euroraums erneuert. Sie argumentieren, dass die Mitgliedstaaten des Euroraums in der Lage sein sollten, ihre nationale Fiskalpolitik in einem offenen Koordinierungsrahmen selbständig zu wählen, anstatt gezwungen zu sein, sich an strenge numerische Ziele zu halten. Um dies zu erreichen, schlagen Mathieu und Sterdyniak vor, dass die Fiskalpolitik im Euroraum auf den Grundsätzen des „functional finance“ beruhen und sowohl wirtschaftliche als auch soziale Ziele verfolgen sollte. Die Autoren empfehlen auch die Ausgabe öffentlicher Anleihen zu einem von der Zentralbank kontrollierten Zinssatz und eine von der EZB garantierte Staatsverschuldung.
Begging thy coworker – Labor market dualization and the slow-down of wage growth in Europe
Lukas Lehner, Paul Ramskogler and Aleksandra Riedl
Jahrzehntelang wurde die Arbeitsmarktpolitik von marktorientierter Globalisierung, der Förderung disruptiver Technologie und Deregulierung geprägt. Aber hat die Struktur der Arbeitsmärkte – allen voran die gesteigerte Möglichkeit, Zeitarbeitskräfte zu beschäftigen – tatsächlich einen positiven Einfluss auf das Lohnwachstum, wie gerne insinuiert? Diese Frage steht in engem Zusammenhang mit der Debatte über die allgemeine Qualität von Arbeitsplätzen („good jobs versus bad jobs“), die sowohl in den USA unter Joe Biden als auch in Deutschland im Rahmen der Ampelkoalition prominent auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Die politische Debatte bezieht sich auf die beeindruckende Zunahme von schlecht bezahlten prekären Arbeitsplätzen in den letzten vier Jahrzehnten, die zu weit verbreiteter Unsicherheit, Unzufriedenheit in der Bevölkerung und dem Aufstieg des Populismus beigetragen hat. Ein aktueller Beitrag von Lukas Lehner, Paul Ramskogler und Aleksandra Riedl wirft einen genaueren Blick auf die Debatte und die Gründe für das verzögerte Anziehen des Lohnwachstums nach der globalen Finanzkrise, trotz starker Deregulierung der Arbeitsmärkte. Mit besonderem Augenmerk auf strukturelle Arbeitsmarktaspekte beziehen die Autoren die Arbeitsmarktdualisierung in die Standard-Phillipskurve ein. Unter Berücksichtigung von Daten zum Lohnwachstum in 30 europäischen Ländern im Zeitraum 2004-2017 stellen die Autoren fest, dass die Präsenz von Arbeitnehmern mit befristeten Verträgen auf den europäischen Arbeitsmärkten das aggregierte Lohnwachstum aufgrund des Wettbewerbs, den befristet Beschäftigte gegenüber unbefristet Beschäftigten ausüben, verlangsamt hat. Dieser Wettbewerb ist in Ländern mit niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad am stärksten ausgeprägt. Darüber hinaus stellen sie fest, dass die Dualisierung des Arbeitsmarktes für die Verlangsamung des Lohnwachstums seit der Finanzkrise mindestens ebenso wichtig war wie die Arbeitslosigkeit, d. h. die beobachtete Abflachung der Phillips-Kurve, und bieten somit wertvolle Einblicke in die Debatte über die Auswirkungen von „bad jobs“ auf den Arbeitsmarkt und allgemeine Arbeitsmarktparadigmen.
Anti democratic attitudes: The influence of work, digital transformation and climate change
Andreas Hövermann, Bettina Kohlrausch and Dorothea Voss
Europa und andere Teile der Welt sind in den letzten Jahren von einer Welle populistischer Stimmungen erfasst worden. Die Tatsache, dass Populisten in vielen Ländern zu einem ähnlichen Zeitpunkt aus Protest gewählt wurden, weist auf einen gemeinsamen Nenner hin. Warum wenden sich immer mehr Menschen vom demokratischen System ab und haben kein Vertrauen mehr in die politischen und gesellschaftlichen Regeln? Ein neues Policy Brief der IMK-Forscher Andreas Hövermann, Bettina Kohlrausch und Dorothea Voss nimmt den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und demokratischer Integration anhand von Daten einer repräsentativen Meinungsumfrage genauer unter die Lupe. Ihre Studie kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt, an dem Dekarbonisierung, Digitalisierung und die jüngsten geopolitischen Brüche sozio-ökonomische Veränderungen erforderlich machen und die Demokratie herausfordern. Die Autoren zeigen, dass Menschen, die in objektiv prekären Verhältnissen leben, der Zugang zu Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe verwehrt wird und dass auch die subjektive Wahrnehmung eine Rolle bei antidemokratischen Einstellungen spielt: Der Mangel an Anerkennung und Teilhabe wird als Abwertung des eigenen sozialen und beruflichen Status erlebt. Policy-Maßnahmen, die auf den Abbau antidemokratischer Einstellungen abzielen, müssen diese Erkenntnisse berücksichtigen.
Monetary solidarity in Europe: can divisive institutions become ‘moral opportunities’?
Waltraud Schelkle
Nicht erst seit der Eurokrise ist das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte erodiert und damit einhergehend die Frage präsenter geworden, wie die europäische Währungsunion besser vor künftigen Paniken und Risiken geschützt werden kann. Eine der größten Herausforderungen für die Eurozone ist heute die anhaltende Divergenz der Mitgliedsstaaten und die Uneinigkeit der Mitglieder darüber, welche Reformen notwendig sind, um das Überleben der Union zu sichern. In jüngster Zeit wurden angesichts des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie die Forderungen nach Solidarität, gemeinsamer Recovery-Strategien und Risikoteilung (z. B. durch die Zusammenlegung von Staatsschulden) wieder lauter. Der Ausbruch des russischen Krieges gegen die Ukraine hat die Debatte zwischen den Führungskräften der Mitgliedstaaten über das politische Streben nach mehr Solidarität bei der Bewältigung europäischer Krisen nur noch verstärkt.
Vor diesem hochaktuellen Hintergrund analysiert Waltraud Schelke, Professorin für Politische Ökonomie an der LSE, wie und warum die Risikoteilung unter den Mitgliedern und die zwischenstaatliche Solidarität zunehmen können. Die Studie bietet damit Einblicke in die Frage, ob die europäische Währung politisch nachhaltig sein kann und wird. In der Studie befasst sich Schelkle mit eben jener Frage der Nachhaltigkeit des Euro. Ein Fokus der Analysie liegt dabei dem ESM, dem mit seiner gemeinschaftlichen Finanzierung von Rettungsmaßnahmen für Staaten in der Eurozone seit 2010 auf einer die Mitgliedsstaaten die Rolle einer „spaltenden Institution“zukommt. Schelkle kommt in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass eine Institution wie der ESM unter weniger widrigen Umständen wahrscheinlich dann Bestand haben kann, wenn er eher auf Engagement als auf den Verdacht des moralischen Risikos setzt.
Black swan -or- black boxed economics: applying ontology, Keynesianism, and constructivism to policy and market analysis
Christian Hernandez
Spätestens seit der Finanzkrise 2008 wird das marktliberale Paradigma dafür kritisiert, dass es nicht in der Lage ist, Krisen angemessen vorherzusagen und zu verhindern. Doch warum werden Mainstream-Ökonomen so oft von Finanzkrisen überrascht? Ein immer größer werdender Berg empirischer Belege deutet darauf hin, dass ein Großteil der heutigen Krisen mit den Ontologien, den Auswirkungen und schließlich dem Zusammenbruch des marktliberalen Paradigmas zusammenhängt, das seit den 1970er Jahren in den meisten Ländern der Welt die Politik bestimmt hat. Ein kürzlich erschienener Beitrag des Forschers und politischen Ökonomen Christian Hernandez von der Boston University wirft einen neuen Blick auf dieses Problem, indem er die metaphysischen Grundannahmen der vorherrschenden Wirtschaftstheorien analysiert – also jene Aspekte, von denen sie annehmen, dass es sie beobachten, integrieren und über die es etwas zu wissen gelte. Nach der Krise der Mainstream-Ökonomie hat eine ontologische Wende mehrere multidisziplinäre ökonomische Synthesen hervorgebracht, die versuchen, die „reale Welt“ besser zu erfassen. Der Beitrag ordnet diese Strömungen in die breitere ökonomische ontologische Wende ein und hinterfragt das Konzept der ‚Black Swans‘ im Hinblick auf postkeynesianische Erkenntnisse über Konjunkturzyklen, nachfrageseitige Logik und Modern Money – und skizziert damit neue analytische Rahmen für Krisen in der realen Welt.