NEUES LEITMOTIV
Wenn Ökonomen über ein Virus streiten – und mancher abdriftet
Eine Polemik, aufgeschrieben und gesammelt vom Medienportal „Übermedien“ – und eine Antwort von Rüdiger Bachmann
VON
MARC ADAMVERÖFFENTLICHT
15. MAI 2020LESEDAUER
7 MINDieser Text erschien zuerst auf dem Portal Übermedien.
Von „Welt“-Experten und wirklichen Fachleuten
Der Wirtschaftswissenschaftler Rüdiger Bachmann hat sich sehr über die „Welt“ geärgert. „Ökonomik sollte in den Medien nicht so auftauchen wie in der ‚Welt‘ in den vergangenen Wochen“, sagt er. Er kritisiert vor allem, dass das Blatt den Ökonomen Thomas Straubhaar und Stefan Homburg mit ihren Thesen und Politikempfehlungen breiten Raum gegeben habe. Auf Twitter nannte er die beiden „brandgefährlich“ und „Scharlatane“.
Und ja, ich bin frustriert darueber, dass Sie solchen Scharlatanen eine Stimme geben. Aber ich bin halt naiv: ich dachte gute Wissenschaft setzt sich am Ende auch in der Oeffentlichkeit durch und vor allem schlechte nicht. Ich gebe auf.
— Rudi Bachmann (@BachmannRudi) April 23, 2020
Ach, was soll man schon sagen zu einem Chefredakteur, der in seiner Zeitung brandgefaehrlichen Leuten wie Homburg und Straubhaar ein Forum gibt? Oekonomen, die immer wieder falsch gelegen haben, die einfachste Oekonometrie und Datenarbeit nicht verstehen… Ich gebe hiermit auf.
— Rudi Bachmann (@BachmannRudi) April 23, 2020
„Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt schlug ihm daraufhin vor, doch mal aufzuschreiben, wie er Wissenschaft in Massenmedien sehe.
Nicht aufgeben. Ihre Wahrnehmung ist sehr selektiv. Schreiben Sie für uns doch mal auf, wie Sie Wissenschaft in Massenmedien sehen wollen.
— Ulf Poschardt (@ulfposh) April 23, 2020
Bachmann schrieb daraufhin einen Gastbeitrag, der am vergangenen Samstag in der „Welt“ erscheinen sollte. Doch Olaf Gersemann, Ressortleiter Wirtschaft, verhinderte das. Auf Anfrage von Übermedien erklärte er, er habe sich an dem Text gestört, „weil es in ihm in erster Linie darum geht, den Herren Straubhaar und Homburg die Qualifikation abzusprechen – und nicht um die Sache“. Wenn er sich „mit den Argumenten von Stefan Homburg und Thomas Straubhaar inhaltlich auseinandersetzen wolle“, könne er „gerne dazu unverbindlich einen Text verfassen“. (Straubhaar schreibt seit Jahren eine wöchentliche Kolumne für die „Welt“.)
Wir veröffentlichen den Gastbeitrag von Bachmann in leicht geänderter Form mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Meinungsproduktion ohne Expertise
Wissenschaftskommunikation in den Massenmedien ist gerade in Pandemiezeiten wichtig, und die „Welt“ hätte sich besser in der Fachwelt umgehört, bevor sie bestimmten Ökonomen ein Forum gab.
Am 16. März durfte Thomas Straubhaar in der „Welt“ eine kontrollierte Infizierung als die optimale Strategie gegen die Covid19-Epidemie fordern. Sicherlich, der Artikel wurde als Meinung gekennzeichnet. Und meinen darf in einer offenen Gesellschaft natürlich jeder irgendetwas. Ich meine jedoch, dass Medien Wissenschaftler nach durch Expertise begründete Meinungen fragen sollten. Alles andere scheint mir in einer demokratischen Gesellschaft auch gar nicht vertretbar, schließlich sind dort die persönlichen Ansichten und Präferenzen eines Professoren der Ökonomik nicht wichtiger als diejenigen von Hinz und Kunz, Dieter und Magda, oder Ersin und Yesim.
So beleuchtet fällt als erstes auf, dass Straubhaar sich zu einer Frage äußert, die nicht offensichtlich in sein Fachgebiet fällt – laut Universität Hamburg die Ökonomik der internationalen Beziehungen. Es dürfte unstrittig sein, dass man in diesem Falle für eine begründete Meinung und erst recht für eine daraus resultierende möglicherweise schwerwiegende Politikempfehlung doch wenigstens Erkenntnisse der Medizin, der Virologie und der Epidemiologie mitberücksichtigen sollte.
Daraus ergeben sich dann offensichtliche Fragen, wie: Was ist die Todesrate der Krankheit? Wer stirbt da hauptsächlich? Welches Leid durchleben die Menschen, die erkranken, aber überleben? Welche möglicherweise dauerhaften Folgeschäden gibt es nach Gesundung, und wie lange hält überhaupt eine Immunität? Und was weiß man darüber überhaupt schon mit welchem Grad an Sicherheit?
Man wüsste allzu gerne, auf welche Erkenntnisse zu diesen Fragen sich Straubhaar bei seiner Meinung stützt.
Und hier endet es noch nicht, denn jetzt wird in der Tat ökonomische Expertise gebraucht: zum Beispiel Abschätzungen der wirtschaftlichen Schäden durch den Lockdown und die Folgen der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Abmilderung seiner Auswirkungen ebenso wie Annahmen über den monetären Wert eines menschlichen Lebens als Funktion des Alters, um es vergleichbar machen zu können mit den ökonomischen Schäden, etwa aus versicherungsmathematischen Modellen.
Letzteres hört sich für den Nichtökonomen geradezu grausig an, aber Gesellschaften nehmen implizit immer endliche Werte für das menschliche Leben an, sonst müssten Autofahren, Zugreisen, ja vor die Tür gehen verboten werden. Eigentlich gehören in diese Rechnung auch noch die sozialpsychologischen und physischen Schäden des Isolierens, etwa durch eine Zunahme häuslicher Gewalt.
All diese ökonomischen und epidemiologischen Parameter kann der Ökonom nun in entsprechende Modelle einbauen, die es ihm erlauben, die ökonomischen und epidemiologischen Folgen verschiedener Politikmaßnahmen abzuschätzen. Straubhaar hat meines Wissens bis heute kein solches Modell vorgelegt, noch ist zu erkennen, dass er seine Empfehlungen auf einem solchen Modell basiert. Seine Meinung ist also mithin einfach nur bloße Meinung, aber keine durch Expertise begründete Meinung.
Modelle als rationale Entscheidungsgrundlagen
Dass es auch anders geht, hat vor kurzem ein in den USA forschender und lehrender deutscher Ökonom bewiesen, Dirk Krüger von der University of Pennsylvania, der mit Ko-Autoren eine Arbeit vorgelegt hat, die die ökonomischen und epidemiologischen Konflikte für verschiedene Bevölkerungsgruppen abbildet. Um es ganz klar zu sagen: Solche Modelle sind immer unvollständig – zum Beispiel sind auch in diesem Modell die Fragen der möglichen Folgeschäden und die Dauer einer etwaigen Immunität nicht berücksichtigt –, und es ist auch immer so, dass in sie auch normative Annahmen einfließen, etwa der monetäre Wert eines Lebens, die umstritten sein werden.
Es ist auch nicht so, dass dann die Wissenschaftler mit solchen Modellen mechanisch entscheiden sollen.
Dennoch können solche Modelle eine rationale Grundlage für die von Entscheidungen bilden, die wir von den gewählten Politikern erwarten.
Dirk Krüger ist hochgeachtet in der internationalen Wissenschaft, dürfte in der deutschen Öffentlichkeit und den deutschen Medien aber weitgehend unbekannt sein. Man fragt sich jedoch, warum die „Welt“ nicht vielmehr solch einen Wissenschaftler um seine begründete Einschätzung der epidemiologischen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen bittet.
Gravierende Fehlprognosen
Am 15. April machte Stefan Homburg in einem Beitrag für die „Welt“, in dem er Deutschland das schwedische Covid19-Bekämpfungsmodell empfiehlt, die Prognose, dass in Deutschland die Zahl der Covid19-Toten „kaum noch wesentlich“ über 3000 steigen werde. Am 29. April, also nur zwei Wochen später, schloss Deutschland laut Worldometer.info mit 6467 Toten ab, eine Fehlprognose von mehr als 100 Prozent, und die Pandemie geht ja noch weiter. Homburg hat für andere Länder ähnliche Prognosen abgegeben, die allesamt bereits nach wenigen Tagen nach oben übertroffen wurden.
Auch gute Prognostiker können sich natürlich irren, denn die Zukunft ist ungewiss. Gute Prognostiker sollten sich aber nicht systematisch irren, zum Beispiel immer nach unten, wie in Homburgs Fall.
Homburg hat für diese Prognosen sogenannte S-Kurven Modelle verwendet, statistische Modelle, die in der Tat gut den Verlauf von Epidemien beschreiben können; und zwar umso besser, je näher man dem Ende der Epidemie gekommen ist. Zur Prognose sind sie nur sehr bedingt geeignet, weil diese Modelle basierend nur auf frühen Daten aus der Epidemie wenig Aussagekraft für den Gesamtverlauf der Epidemie haben. Ein nahezu identischer früher Verlauf kann mit ganz unterschiedlichen Gesamtverläufen verbunden sein. Dies ist in der Wissenschaft auch bekannt.
I spent a humiliating amount of time learning how to make animated graphs, just to illustrate a fairly obvious point.
“Forecasting s-curves is hard”
My views on why carefully following daily figures is unlikely to provide insight.
— Constance Crozier (@clcrozier) April 17, 2020
Ich habe Homburg mehrfach auf dieses Problem hingewiesen, er hat diese Warnungen aber ignoriert. Es ist deshalb für den Fachmann keine Überraschung, dass seine Prognosen scheitern mussten. Was dabei wichtig ist zu verstehen: Hier geht es nicht um bloße Meinungen, sondern um gute wissenschaftliche Praxis; jeder Doktorand der Ökonomik wäre bei solch groben Fehlern durchs Examen gefallen. Dies hätte der „Welt“ bekannt sein können, wenn sie sich bei entsprechenden Fachleuten umgehört hätte.
Zweifelhafte Interpretationen
Stattdessen durfte Homburg in einem weiteren „Welt“-Beitrag die nun mehr weithin bekannte R-Graphik des Robert-Koch-Instituts dahingehend interpretieren, dass der Lockdown keinerlei Auswirkungen gehabt habe und umgehend abgeschafft gehöre. Nur unter ganz bestimmten, geradezu klinischen Bedingungen lassen sich solche Schlüsse aus reinen Daten ziehen. Homburgs Interpretation wurde denn auch inzwischen von Fachleuten und Wissenschaftsjournalisten heftig kritisiert, unter anderem in der „Welt“ selbst.
Wiederum kann man eine solche Analyse glaubwürdiger durchführen, in dem man analysiert, was denn ohne den Lockdown geschehen wäre, die sogenannte kontrafaktische Analyse. Genau dies macht wiederum Dirk Krüger in seiner Arbeit und findet, jedenfalls für die USA, erhebliche pandemiedämpfende Wirkungen. Er findet in seiner Arbeit allerdings auch, dass der Lockdown in den USA zu scharf sein könnte. Eine rationale Diskussion in Deutschland würde von einem auf Deutschland kalibrierten Krügermodell profitieren. Warum lädt die Bundesregierung ihn nicht ein, zusammen mit Epidemiologen und Medizinern sein Modell zu verfeinern und auf Deutschland anzuwenden?
All dies wiederum hätte der „Welt“ ebenso bekannt sein können. Hätte man sich in der wissenschaftlichen Gemeinschaft umgehört oder sich Homburgs Publikationsverzeichnis angeschaut, so hätte man ihn als Theoretiker für öffentliche Finanzen mit für heutige deutsche Professorenverhältnisse qualitativ eher unterdurchschnittlichem Publikationsverzeichnis und ohne besondere Expertise in quantitativ-empirischer Arbeit kennengelernt. Man hätte auch wissen können, dass Homburg noch im Januar 2009 nichts von einer weltweiten Finanzkrise erkennen konnte. Es hätte also a priori keinen Grund gegeben, von ihm eine besonders begründete, auf besondere Expertise basierende Meinung zu erwarten.
Es sei denn, das Ziel ist nicht Information, sondern den konträren Gehalt des vertretenen Meinungsspektrums zu maximieren. Das kann man wollen. Ich wünsche mir dennoch, dass Wissenschaft anders in den Massenmedien vorkommt.
Rüdiger Bachmann ist Associate Professor für Wirtschaftswissenschaften an der University of Notre Dame. Er ist Mitbegründer des „Coronomics“-Podcasts auf Youtube, in dem er mit Experten zum jeweiligen Thema allgemeinverständlich die Problemzusammenhänge erläutert.