NEUES LEITMOTIV  |  REPORT

Mapping the State of a Shifting Paradigm

von Thomas Fricke, Xhulia Likaj, Maren Buchholtz, Sonja Hennen, Tom Krebs, David Kläffling

VERÖFFENTLICHT

12. JANUAR 2023

Mehr als drei Jahrzehnte lang hat sich die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik stark an marktliberalen Grundsätzen orientiert. Seit der Finanzkrise 2008 hat dieses Leitmotiv viel von seiner Anziehungskraft verloren und ein gefährliches paradigmatisches Vakuum hinterlassen, das Populisten zu füllen versuchen.

Das Scheitern früherer Leitlinien hat auch zu vielen scheinbar ad hoc erfolgenden staatlichen Interventionen zur Lösung aktueller Krisen geführt. Ist dieses Comeback des Staates eine Art gesellschaftliche Modeerscheinung ohne systematische wirtschaftliche Grundlage? Oder spiegelt es die Entstehung eines neuen Paradigmas wider, das entscheidend dazu beiträgt, ausgefeiltere Antworten auf die neuen großen Herausforderungen zu finden, die die marktliberale Ära hinterlassen hat, vom Klimawandel und gravierenden Ungleichheiten bis hin zur Krise der Globalisierung und der Instabilität der Finanzmärkte?

Die vorliegende Studie versucht zu beurteilen, ob die jüngsten Entwicklungen in Forschung und Politik die Anfänge eines solchen neuen Paradigmas widerspiegeln. Er bewertet auch, welches Stadium diese Erneuerung im Vergleich zu früheren Paradigmenwechseln in der Geschichte erreicht hat. Unsere Untersuchungen zeigen, dass es mehr als nur Ad-hoc-Forschung zu neuen Herausforderungen gibt.

In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat sich ein umfassendes akademisches Werk in einer Vielzahl von Bereichen entwickelt. Der Bericht identifiziert mindestens ein Dutzend wichtiger neuer Denkrichtungen, die jeweils von prominenten internationalen Denkern vertreten werden – von Dani Rodrik über die Neudefinition der Globalisierung und Thomas Piketty über den Abbau von Ungleichheiten bis hin zu Mariana Mazzucatos Arbeit über einen innovativen Staat. Für Deutschland werden solche neuen Denkströmungen von innovativen Forschern wie Moritz Schularick, Jens Südekum oder Isabella Weber vertreten. Diese weitgehend unkoordinierte Arbeit hat das Potenzial, im Nachhinein als intellektueller Kern eines neuen Paradigmas gesehen zu werden, so wie es die Arbeit der Monetaristen und Supply-Sider in der Vergangenheit für das marktliberale Paradigma war.

Die Studie zeigt auch eine wachsende Zahl von Organisationen und Einzelpersonen auf, die die Suche nach einem neuen Paradigma aktiv unterstützen, wobei Deutschland im Vergleich zu den USA und dem Vereinigten Königreich aufgeholt hat. Zu diesen Akteuren gehören Plattformen und Think Tanks wie das Forum New Economy und The New Institute sowie das Dezernat Zukunft oder das ZOE Institute For Future-Fit Economies.

Unser systematischer Zeitvergleich bestätigt, dass es seit den Hochzeiten des Marktliberalismus auch einen deutlichen Paradigmenwechsel in den Positionen der führenden internationalen Institutionen gibt. Die OECD, die in den 1990er Jahren flexible Arbeitsmärkte befürwortete, setzt sich heute für Mindestlöhne und bessere Arbeitsplätze ein. Der IWF hat seine früher bedingungslose Unterstützung für den freien Kapitalverkehr aufgegeben. Auch Institutionen wie der IWF und die EU-Kommission setzen sich heute für eine flexiblere Finanzpolitik statt für harte Sparmaßnahmen ein. Das Gleiche gilt für einzelne Regierungen wie die 2021 gebildete Ampelkoalition in Deutschland, die seitdem den nationalen Mindestlohn erhöht, große kreditfinanzierte öffentliche Klima-Investitionspakete verabschiedet oder neue Wohlstandsbegriffe und ergänzende Indikatoren zum BIP im jährlichen Wirtschaftsbericht der Regierung eingeführt hat.

Vergleicht man die aktuellen Veränderungen mit früheren historischen Beispielen, wird klar, dass ein Wandel stattfindet. Es wird aber auch deutlich, dass wichtige Elemente für einen umfassenden Paradigmenwechsel fehlen. Es müssen noch Antworten auf große Herausforderungen gefunden werden, z. B. wie man sozial kritische Vermögensungleichheiten, die sich durch Vererbung zu verfestigen scheinen, abbauen kann. Die Veränderungen, die in den großen Institutionen spürbar sind, bleiben meist schrittweise, und es gibt nur wenige Beispiele für wichtige neue Ansätze, wie z. B. das neue Wohlstandsbudget in Neuseeland. Ein breiterer gesellschaftlicher Paradigmenwechsel erfordert auch einen breiten Konsens jenseits von Parteigrenzen über die Notwendigkeit einer Erneuerung – mit sozialdemokratischen sowie liberalen und konservativen Interpretationen eines solchen neuen gemeinsamen Verständnisses.

Die Feststellung, dass der sich abzeichnende Paradigmenwechsel noch lange nicht abgeschlossen ist, bedeutet nicht unbedingt, dass er nicht stattfinden wird. Wie der marktliberale Präzedenzfall gezeigt hat, sind solche Verschiebungen komplexe Prozesse, die sich über einen längeren Zeitraum entwickeln, wobei Krisenmomente oft als Katalysator wirken. Aufgrund seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten und der Entwicklung alternativer Ideen scheint es sehr unwahrscheinlich, dass das marktliberale Paradigma in den kommenden Jahren seine Renaissance erleben wird.

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