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ReLive Short Cut²: Tiefe Krise oder Jammer-Falle – Wie geht es Deutschland zum Jahreswechsel 2026 wirklich?

Deutschland zwischen Untergangsrufen und Realität: Was steckt wirklich hinter schwachen Exporten, industrieller Flaute und politischen Schnellrezepten? Darüber diskutierten Erik F. Nielsen, Sebastian Dullien und Nicola Brandt.

VON

LUIS WUNDER

VERÖFFENTLICHT

4. DEZEMBER 2025

Kaum ein Tag ist im ablaufenden Jahr vergangen, an dem in Deutschland nicht der Niedergang prophezeit wurde – und deshalb jetzt Bürokratie abzubauen, Bürgergeld zu kappen und Renten zu bremsen und Feiertage abzuschaffen sind. Nur, was hat das mit dem Ausbleiben von Exporten oder mit der Schwäche der Industrie zu tun? Und können solche Maßnahmen wirklich helfen – gegen Handelskonflikte mit großen Wirtschaftsmächten und die Herausforderungen der Autoindustrie?

Der dänische Ökonom Erik Fossing Nielsen hat den Pessimismus mit einer deutlich differenzierteren Analyse gekontert. Übertreiben die Untergangspropheten also? Wo liegen Deutschlands Probleme tatsächlich – und welche Maßnahmen würden wirklich helfen?

Darüber diskutierten wir in unserem New Economy Short Cut². In Kooperation mit dem OECD Berlin Centre:  

Tiefe Krise oder Jammer-Falle – Wie geht es Deutschland zum Jahreswechsel 2026 wirklich? 

Mit Erik Fossing Nielsen, Independent Economics, 

Sebastian Dullien, IMK Düsseldorf, 

und Nicola Brandt, OECD Berlin. 

Am Freitag, 12. Dezember 2025, um 13:00 Uhr – via Zoom.  Hier gehts zum ReLive.

Erik F. Nielsen legte zunächst dar, warum Deutschland seiner Meinung nach in einer besseren Lage sei, als viele denken. Ein Grund sei, dass Deutschland in den letzten drei bis vier Jahren eine Reihe makroökonomischer Schocks erlebt habe. Dazu würden unter anderem ein signifikanter Terms-of-Trade-Schock, die stärksten geldpolitischen Straffungen in der Geschichte der EZB und die Invasion der Ukraine durch Russland zählen. Diese Schocks hätten inzwischen entweder nachgelassen oder hätten sich sogar umgekehrt. Nielsen hielt daher die einprozentige Wachstumsprognose der OECD für zu pessimistisch und sprach sich für eine günstigere Wachstumsrate von etwa 1,5 Prozent des BIP im Jahr 2026 aus. 

Wenn man sich diese makroökonomischen Schocks ansieht, würde ich das stagnierende deutsche Wirtschaftswachstum in den letzten Jahren als Zeichen von Widerstandsfähigkeit sehen, nicht als Schwäche. – Erik F. Nielsen

Nicola Brandt stimmte der Analyse dahingehend zu, dass Deutschland durchaus nach wie vor über Wachstum- und Erholungspotenzial verfüge. Eine Wachstumsrate von einem Prozent im Jahr 2026 könne demnach zu pessimistisch sein. Allerdings führte sie aus, dass weiterhin unklar sei, ob die für die Erholung notwendigen innenpolitischen Reformen tatsächlich umgesetzt würden. Ein wichtiger Faktor für den künftigen Kurs des Landes sei dabei unter anderem das Ausmaß, in dem das deutsche Sondervermögen für öffentliche Investitionen und zur Anregung privater Investitionen eingesetzt werde. 

Brandt erklärte außerdem, dass die Unsicherheit in Bezug auf deutsche Exporte voraussichtlich auch 2026 anhalten werde. Das sei nicht nur auf kurzfristige makroökonomische Schocks, sondern auch auf anhaltende Veränderungen in den globalen Handelsbeziehungen zurückzuführen. So schließe China beispielsweise in verschiedenen Sektoren zu globalen Konkurrenten auf, wodurch die chinesische Wirtschaft zunehmend unabhängig von Importen werde. 

Sebastian Dullien brachte eine langfristige Perspektive in die Debatte ein. Zunächst wies er darauf hin, dass das Wachstum des deutschen BIP pro Kopf zwischen 2000 und 2019 mit dem der USA vergleichbar war. Ein Grund für das darauffolgende abfallende deutsche Wirtschaftswachstum sei das geopolitische und geoökonomische Umfeld gewesen, in dem China und die USA zunehmend miteinander konkurriert und daraufhin restriktivere Handelspolitiken eingeführt hätten. Dadurch würden wichtige Exportmärkte teilweise abgeschottet, was den deutlichen Rückgang der deutschen Exporte erkläre. 

Dennoch sehe er Gründe für Optimismus. Zum einen werde die aktuelle deutsche Fiskalpolitik das BIP in den kommenden Jahren signifikant erhöhen. Außerdem falle die aktuelle deutsche Sparquote höher aus als erwartet. Demnach könne auch der private Konsum in naher Zukunft ansteigen. Laut Dullien könnten diese Faktoren zu einer binnenwirtschaftlich getriebenen Erholung führen. Er warnte allerdings davor, dass aktuelle Debatten über Kürzungen bei Renten und anderen Sozialleistungen die Unsicherheit der Verbraucher*innen schüren und damit eine mögliche wirtschaftliche Erholung untergraben könnten.  

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