ZEITRAUM

Die Stimmen, die einen neuen wirtschaftlichen Konsens fordern, werden immer lauter. In einem kürzlich erschienenen Artikel für Project Syndicate argumentiert Mariana Mazzucato, dass die Welt tatsächlich an der Schwelle zu einem längst überfälligen Paradigmenwechsels steht. Sie plädiert für eine Wiederbelebung der Rolle des Staates, da globale Ziele wie eine dekarbonisierte Wirtschaft und die weltweite Verteilung von Impfstoffen nur durch eine Erhöhung der öffentlichen Ausgaben erreicht werden können.

Nach Ansicht der italienischen Ökonomin hat die Covid-19-Krise gezeigt, dass das Paradigma, das während der vergangenen fünf Jahrzehnte für eine Politik der freien Marktwirtschaft eintrat – der Washington Consensus mit seinem Mantra der Deregulierung, Privatisierung und Handelsliberalisierung – die internationale Gemeinschaft zum Scheitern verurteilt hat. Mazzucato argumentiert, dass wir in eine Ära eintreten, in der die irreversiblen Schäden des Klimawandels über nichts Geringeres als das Überleben der menschlichen Spezies entscheiden werden. Folglich sollten sich die politischen Entscheidungsträger darauf vorbereiten, das Ruder herumzureißen.

Im Vorfeld des bevorstehenden G20-Gipfels am 30. und 31. Oktober fordert sie die politischen Entscheidungsträger auf, eine Reihe von politischen Empfehlungen unter dem Oberbegriff „Cornwall Consensus“ zu berücksichtigen. Der Begriff wurde vom G7-Gremium für wirtschaftliche Resilienz, in dem Mazzucato Italien vertritt, im Vorfeld des G7-Gipfels im Juni dieses Jahres geprägt. Der jüngste Bericht dieser Beratergruppe schlägt einen neuen internationalen Sozialvertrag vor. Zu den konkreten politischen Vorschlägen gehören eine Reform der Rechte an geistigem Eigentum, eine Erhöhung der staatlichen Investitionen auf 2 % des BIP pro Jahr und ein neues Forschungsinstitut, das nach dem Vorbild der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) Lösungen im Bereich der Klimatechnologie entwickeln soll. Durch die Verabschiedung einer neuartigen Wirtschaftsagenda, die durch aufgabenorientierte Institutionen und Maßnahmen umgesetzt werden soll, können die führenden Politiker der Welt verhindern, dass die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden.

Der diesjährige Alfred-Nobel-Gedächtnispreis wurde an drei US-Ökonomen verliehen, die mit ihrer Forschung entscheidend zur Weiterentwicklung „natürlicher Experimente“ beigetragen haben. Damit geht der Preis an ein Trio, das mit seiner Arbeit an realen Experimenten gängige ökonomische Glaubenssätze in Frage gestellt hat.

Der Ökonomie-Nobelpreis ist der einzige, der nicht auf Alfred Nobel zurück geht. Er wird von der Schwedischen Reichsbank gestiftet. Das Vergabe-Komitee begründete seine Entscheidung damit, dass die drei Wissenschaftler „die empirische Forschung revolutioniert haben“, indem sie natürliche Experimente verwendeten – Situationen im wirklichen Leben, in denen zufällige Ereignisse oder politische Entscheidungen ähnliche Bedingungen wie in einer klinischen Studie schaffen.

So belegten Preisträger David Card und der 2019 verstorbenen Alan Krueger, dass eine Anhebung der Mindestlöhne nicht zwangsläufig zu einer Verschlechterung der Beschäftigungslage führt, indem sie zwei Gruppen von Beschäftigten in der Niedriglohnbranche Fast-Food-Gaststätten verglichen. Eine Erkenntnis mit revolutionärem Charakter, brach sie doch mit dem bis dato herrschenden Konsens, dass höhere Mindestlöhne zu mehr Arbeitslosigkeit führen. Auch einen anderen Konsens unter Ökonomen erschütterte Card einige Jahre später mit einer ähnlichen Studie, in der er zeigte, dass Einwanderung nicht zu Lohneinbußen für einheimische Arbeitnehmer führen muss.

Joshua Angrist und Guido Imbens erhalten den Preis für ihre methodologischen Beiträge zur Frage, welche Schlussfolgerungen über Kausalitäten man aus natürlichen Experimenten ziehen kann. Methodisch haben sie die Ökonomie bei der Frage von Korrelation und Kausalität vorangebracht. Die diesjährige Vergabe ist eine Würdigung derjenigen Wissenschaftler, die mit ihrer Forschung eine Abkehr der alteingesessenen, bisher geglaubten ökonomischen Lehrsätze vertreten.

Eine detailreiche Analyse der diesjährigen Preisvergabe bietet auch dieser Handelsblatt Artikel.

Ebenfalls lesenswert zum Thema, dieser Beitrag aus der Financial Times.

In einem kürzlich in der Financial Times veröffentlichten Kommentar fordert die Cambridge-Professorin Diane Coyle einen Wandel in den Wirtschaftswissenschaften – und bei der nächsten Generation von Wirtschaftswissenschaftlern. Coyle begründet dies damit, dass die Wirtschaftswissenschaft ein Beruf sei, der mit seiner einflussreichen Stimme in Debatten über Gesellschaft und Politik eine besondere Verantwortung mit sich bringe. Durch die Möglichkeit zur Politikgestaltung und zur Beratung von Regierungen und Unternehmen haben wirtschaftliche Forschung und Ideen Einfluss auf die Art der Gesellschaft, in der wir leben. Derzeit, so Coyle, versäumt es der Berufsstand, seine Macht so einzusetzen, dass die dringendsten Herausforderungen unserer Zeit erfolgreich bewältigt werden können.

Dafür macht sie zwei Mängel verantwortlich. Einerseits, so Coyle, fehle es der Ökonomie an Ethik. Coyle zufolge wird durch den Anspruch mittels strenger statistischer Verfahren und datenbasierter Analyse so objektiv wie möglich zu sein, die Illusion geschaffen, dass Wirtschaftswissenschaftler sich von der Gesellschaft, die sie analysieren, abgrenzen können – und Werturteile an diejenigen delegieren, die sie beraten. Vielmehr jedoch baue jede wirtschaftliche Analyse auf ein implizites moralisches Rahmenwerk. Doch die Wohlfahrtsökonomie – jener Zweig, der sich mit moralischen Fragen befasst – sei in Forschung und Lehre immer noch unterrepräsentiert.

Das zweite Problem, so Coyle, ist das Versäumnis der Ökonomen, ihre Annahmen und Modelle entsprechend der heutigen wirtschaftspolitischen Realität zu aktualisieren. Als Beispiele nennt Coyle die digitale Technologie und ihre Unsichtbarkeit in den Wirtschaftsstatistiken sowie die Vorstellung, dass Menschen individuelle Profitmaximierer seien. Dies sei im Zeitalter sozialer Medien, die von Werbeeinnahmen angetrieben werden, schlicht inkorrekt. Wo immer ein Wandel der Perspektiven und Ansätze stattfände, schaffe er es nicht, den Mainstream zu durchdringen und die Lehrbücher zu erreichen.

Coyle zufolge liege es daher an der nächsten Generation von Wirtschaftswissenschaftlern, dafür zu sorgen, dass ein Wandel stattfinde, damit die Profession rechtmäßig ihren Einfluss aufrechterhalten könne, um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.

Den vollständigen Artikel gibt es hier.

Zusammen mit Jan Behringer hat Till van Treeck in einer bald erscheinenden Publikation die Ungleichheit in liberalen Marktwirtschaften mit einem schlankeren Sozialstaat und einer ausgeprägten Shareholder Value-Orientierung (z.B. USA, UK) und in koordinierten Marktwirtschaften mit einer stärkeren sozialen Absicherung (z.B. Deutschland, Skandinavien) verglichen. Dabei haben die Autoren unterschiedliche Trends identifiziert. In beiden Kapitalismustypen ist die ökonomische Ungleichheit gemessen am Gini-Koeffizienten seit den 1980er Jahren stark angestiegen.

Allerdings sank die Lohnquote in koordinierten Marktwirtschaften trotz der traditionell stärker ausgeprägten Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmensverbänden und Gewerkschaften deutlicher als in den liberalen Marktwirtschaften. Dies kann einerseits auf die regelrechte Explosion der Spitzeneinkommen in liberalen Marktwirtschaften und die Stagnation der eher „exportgetriebenen“ Volkswirtschaften zurückgeführt werden. Zum anderen sind in koordinierten Marktwirtschaften große Teile der Unternehmensgewinne einbehalten worden, so van Treeck. In liberalen Ökonomien habe der rasante Anstieg von Managergehältern höhere – oftmals schuldenfinanzierte – Ausgaben bei den unteren und mittleren Einkommensgruppen zur Aufrechterhaltung des relativen Lebensstandards veranlasst, weshalb das Wachstumsmodell dieser Länder als „schuldengetrieben“ bezeichnet werden kann.

Till van Treeck plädiert dafür, beim Thema Ungleichheit neben dem Gini-Koeffizienten weitere Indikatoren zu betrachten und hebt die Auseinanderentwicklung zwischen Haushaltseinkommen und Unternehmensgewinnen in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland hervor.

Den vollständigen Artikel können Sie hierlesen.

Laut der renommierten Columbia-Professorin Katharina Pistor ermöglichen es „grüne“ Hedging-Strategien und Co2-Kompensationsprogramme Unternehmen, sich der Verantwortung für von ihnen verursachte Schäden an Umwelt und Gesellschaft zu entziehen. In ihrem kürzlich veröffentlichten Kommentar für Project Syndicate argumentiert Pistor, dass das kapitalistische System und die Gesetze, auf denen es aufbaut, die Privatisierung von Gewinnen und die Sozialisierung von Verlusten zum Vorteil großer Unternehmen ermöglichen.

Nicht die Märkte, schreibt Pistor, sondern die Gesetze ermöglichen es Konzernen und Unternehmen, Umweltverpflichtungen auszulagern und ihr Kapital zu schützen, selbst wenn sie sich umweltfeindlich verhalten. Der neue ‚grüne‘ Konsens, der sich auf die Offenlegung einzelner Finanzdaten ob ihrer Nachhaltigkeit konzentriert, verspricht einen marktfreundlichen Wandel, ohne diesen auch einhalten zu müssen. Wäre der nachhaltige Wandel der Wirtschaft wirklich das Ziel, so Pistor, müssten Regierungen umgehend sämtliche Subventionen für Aktivitäten des ‚braunen Kapitalismus‘ abschaffen. Zudem sei ein Moratorium nötig, welches den Schutz von Unternehmen und Investoren vor der Übernahme von Verantwortung für von ihnen verursachte Umweltschäden, aufhebt.

Den vollständigen Artikel können Sie hier lesen.

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Nach ein paar Jahrzehnten allzu naiven Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

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Jahrzehnte lang galt der Konsens, dass sich der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehen und man die Staatsschulden senken sollte, um den Wohlstand zu fördern. Dies hat jedoch zu chronischen Mängeln in Bildung und Infrastruktur geführt. Neuere Forschung versucht zu erörtern, wann es sinnvoll ist, dass sich der Staat in den Wirtschaftsprozess einmischt, um langanhaltenden Wohlstand zu garantieren und Krisen zu verhindern.

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Zu Hochzeiten des Glaubens an die Märkte galt als bestes Mittel gegen die Klimakrise, an den Märkten einen CO2-Preis aushandeln zu lassen. Heute ist zunehmend Konsens, dass das nur bedingt funktioniert - und es weit mehr braucht, als nur einen Preis.

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Das Gefälle zwischen Arm und Reich scheint selbst in einem Land wie Deutschland zunehmend den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Um den Trend umzukehren, ist es wichtig, die wirklichen Ursachen des Auseinandergehens von Einkommen und Vermögen zu verstehen.

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Auch zehn Jahre nach der Finanzkrise scheint eine wirkliche Stabilität des Finanzsystems nicht in Sicht zu sein. Risiken werden periodisch falsch bewertet und führen zu Boom-Bust-Zyklen. Ein stabileres Finanzsystem sollte kurzfristige Spekulationen erschweren, systemische Risiken begrenzen und das Vermögen gerechter verteilen.

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Nach drei Jahrzehnten schlecht gemanagter Integration ist die Globalisierung durch soziale Unzufriedenheit und den Aufstieg populistischer Kräfte bedroht. Es gilt dringend die negativen Nebeneffekte auf viele Menschen zu beheben - und klarer zu definieren, welche Herausforderungen auf lokaler oder regionaler, und welche über Grenzen hinweg angegangen werden sollten.

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Das Europa der vergangenen Jahrzehnte wurde stark vom Primat der Wirtschaft und dem Vertrauen in die Heilungskraft der Märkte geprägt. Die Euro-Krise hat dies erschüttert. Seither wird gestritten, wie die Währungsunion vor neuen Paniken besser geschützt werden kann – und wie sich das Auseinanderdriften von Ländern besser verhindern lässt.

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Die aktuelle Corona Krise ist mitunter die schwerste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. ÖkonomInnen arbeiten intensiv an einer Milderung der wirtschaftlichen Folgen durch COVID-19. Es gilt eine zweite große Depression, den Zusammenbruch der Eurozone und das Ende der Globalisierung zu verhindern. Wir sammeln die wichtigsten Beiträge.