ZEITRAUM

In einem kürzlich erschienenen Artikel griff die Financial Times einige der Ideen zur Finanzierung von Investitionen unter Einhaltung der Schuldenbremse auf, die unter Mitarbeit des Forums entstanden sind und auch Eingang in den Koalitionsvertrag der Ampel gefunden haben. Wörtlich heißt es in dem Artikel, dass „die neue Koalition ein Sammelsurium von Plänen hat, um Mittel zu beschaffen, ohne die verfassungsmäßige Obergrenze für die Neuverschuldung zu verletzen.“

Explizit wird dabei auf die Vorschläge von Krebs, Graichen und Steitz (2021) und vom Dezernat Zukunft (2021) verwiesen.

Wohl kaum eine Studie ist in dem Kontext von Staatsschulden und Wachstum so berühmt, wie die 2010 veröffentlichte Untersuchung von Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart Growth in a Time of Debt. Die Autoren fanden heraus, dass hohe Schulden ab einem Schuldenstand von 90% des BIP wirtschaftliches Wachstum behindern. Die Studie entfaltete ihre politische Durchschlagskraft vor allem in der Eurokrise, wo sie immer wieder als Argument für die Austeritätsvertreter diente.

In der wissenschaftlichen Debatte geriet die Studie jedoch schnell in die Kritik. Der Doktorand Thomas Herndon konnte zeigen, dass die Analyse durch Excel-Fehler verzerrt war. Heißt das also, es gibt keinen Zusammenhang zwischen Schulden und Wachstum? Oder etwa doch?

In einer Meta-Analyse, der 50 ökonomische Artikel zugrunde liegen, untersucht Philipp Heimberger den aktuellen Forschungsstand zu der Frage. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der ungewichtete Durchschnittswert zwar einen negativen Zusammenhang zwischen Schulden und Wachstum aufweist. Dieser verschwindet aber, sobald man für die Verzerrung von veröffentlichten Studien (Publication Bias) kontrolliert. Auch die Existenz eines magischen Schuldenstandes, ab dem das Wachstum gehemmt wird, wird zurückgewiesen.

Die ganze Studie kann man hier nachlesen.

Eine kürzere Version gibt es als Artikel hier nachlesen.

Der Koalitionsvertrag der neuen Ampelregierung ist veröffentlicht. Beginnt damit etwas ganz Neues, womöglich sogar ein neues wirtschaftliches Paradigma? Eine Politik, die den Wunsch nach Wohlstand umsetzt, und sich dabei gleichzeitig der Klimarettung verpflichtet, die finanzpolitische Spielräume schafft, wo zuvor keine waren? Einen Auszug der unterschiedlichen Meinungen zum Neuheitsgrad der Vorschläge der neuen Regierung – und dem Potential für einen Paradigmenwechsel – gibt es hier.

Bei der Financial Times ist man sich sicher – der Koalitionsvertrag der Ampelregierung markiert einen bedeutenden politischen Richtungswechsel. Als zentrales Aufbruchssignal zur Ära Merkel wertet das Editorial Board die geplante erleichterte Kreditaufnahme für Investitionen. Dazu gehören Sonderfonds außerhalb des Haupthaushalts, mehr Mittel für die KfW und eine Neubewertung der technischen Berechnungen der Fiskalregeln. Im Koalitionsvertrag sieht man das Versprechen auf Erneuerung, mit der Chance, dass nebst der deutschen Politik auch die Wirtschaft des Landes und Europa profitieren könnten.

Auch das Center for European Reform hält die im Koalitionsvertrag enthaltenen Investitionspläne für mutig und erwartet mehr fiskalischen Spielraum und Investitionen als unter der Vorgängerregierung. In der Umwidmung von Pandemie-Notfallmitteln sieht man Potential für einen europäischen Dominoeffekt, der auch andere Länder motivieren könnte, ein finanzielles Polster aus Notlage-Mittel für fiskalisch striktere Zeiten anzulegen. Auch traut das CER Deutschland zu, unter der neuen Regierung eine führende Rolle beim Klimaschutz einzunehmen.

Etwas verhaltener äußerte sich jüngst der Columbia-Professor Adam Tooze. Zwar sei es für eine abschließende Bewertung noch zu früh, doch Lindner als Finanzminister sei eine Bedrohung für alle progressiven Ambitionen der Regierung. Allerdings sei die deutsche Wirtschaft längst nicht mehr ihr altes konservatives Selbst, und die Regierung bereit, sich der Herausforderung des Klimawandels anzunehmen.

Ein großes ökonomisches Rätsel der letzten Jahre ist der Rückgang privater Investitionen. Und das, obwohl es angesichts des Klimawandels an Investitionsbedarfen nicht mangelt. Dennoch halten sich auch DAX-Unternehmen mit Investitionen zurück und nutzen die Gewinne stattdessen für Dividendenausschüttungen an Aktionäre oder der Erhöhung ihrer Barbestände, wie eine neue Studie von Finanzwende Recherche und Oxfam Deutschland zeigt.

Die Autoren diskutieren die Möglichkeit, die Unternehmen über Reformen des Gesellschaftsrechts wieder stärker an das Gemeinwohl zu binden. Dafür solle im Sinne des Grundsatzes „Eigentum verpflichtet“ eine Neudefinition des Unternehmenszwecks auch ökologische und soziale Aspekte einschließen. Zudem könne die Investitionslücke über eine Begrenzung der Dividendenausschüttungen und eine Investitionspflicht verkleinert werden. All diese Instrumente könnten dazu beitragen, kurzfristig angelegte Profitmaximierung durch eine Gemeinwohlorientierung abzulösen.

Eine Kurzfassung der Studie finden Sie hier.

Das OECD-Projekt New Approaches to Economic Challenges (NAEC) hat mit Government Economists for New Economic Systems (GENESYS) eine Plattform ins Leben gerufen, die es Ökonomen im Staatsdienst und politischen Entscheidungsträgern erleichtern soll, über Ansätze für neues ökonomisches Denken zu diskutieren. Insbesondere soll die Plattform einen Diskurs über „systemische strukturelle Probleme, die die Zukunft bedrohen“ ermöglichen, um so politische Alternativen zu erproben, die besagte Probleme lösen könnten. Das Ziel ist es, neue analytische Fähigkeiten innerhalb von Regierungen zu fördern. GENESYS ist als ein informelles Netzwerk von Delegierten aus einzelnen Ländern konzipiert, vor allem, aber nicht nur ausschließlich, aus Finanzministerien und Zentralbanken.

Verfolgen Sie den Webcast zur Eröffnung der Plattform mit Paschal Donohoe, Präsident der Eurogruppe, und anderen am 4. November, 14:00-16:00 Uhr GMT. Forum Direktor Thomas Fricke wird ebenfalls anwesend sein und an einer Diskussionsrunde über neues wirtschaftliches Denken und Handeln teilnehmen.

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Jahrzehnte lang galt der Konsens, dass sich der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehen und man die Staatsschulden senken sollte, um den Wohlstand zu fördern. Dies hat jedoch zu chronischen Mängeln in Bildung und Infrastruktur geführt. Neuere Forschung versucht zu erörtern, wann es sinnvoll ist, dass sich der Staat in den Wirtschaftsprozess einmischt, um langanhaltenden Wohlstand zu garantieren und Krisen zu verhindern.

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Zu Hochzeiten des Glaubens an die Märkte galt als bestes Mittel gegen die Klimakrise, an den Märkten einen CO2-Preis aushandeln zu lassen. Heute ist zunehmend Konsens, dass das nur bedingt funktioniert - und es weit mehr braucht, als nur einen Preis.

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Das Gefälle zwischen Arm und Reich scheint selbst in einem Land wie Deutschland zunehmend den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Um den Trend umzukehren, ist es wichtig, die wirklichen Ursachen des Auseinandergehens von Einkommen und Vermögen zu verstehen.

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