ZEITRAUM

Ende Januar stimmte das Europäische Parlament für eine Lockerung der Eigenkapitalvorschriften für Banken. Der neue offizielle Standpunkt weicht erheblich von der ursprünglichen Basel-III-Vereinbarung ab, was gut für die Gewinne der Aktionäre, aber schlecht für die Stabilität der Banken ist. Zahlreiche Ausnahmeregelungen führen dazu, dass die zusätzlichen Kapitalanforderungen bis 2030 lediglich um 4 Prozentpunkte steigen (bis 2033 7 Prozentpunkte), anstatt der erwarteten 20.

Die Gegner der strengeren Vorschriften argumentieren, dass die Umsetzung strengerer Kapitalvorschriften sie im Vergleich zu ihren größeren und profitableren Gegenspielern in den Vereinigten Staaten benachteiligen würde. Dieses Argument der Wettbewerbsfähigkeit wurde auch von Bundesfinanzminister Christian Linder auf dem digitalen Neujahrsempfang der Deutschen Bank vorgebracht, wie in diesem Artikel zitiert:

„Es geht darum, Finanzstabilität, Verbraucherschutz und Wettbewerbsfähigkeit wieder miteinander zu verbinden. Explizit ist auch die Wettbewerbsfähigkeit des Banken- und Finanzplatzes eines meiner politischen Ziele“, sagte er.

Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass der regulatorische Wandel in Europa (zumindest teilweise) eine Kapitulation vor der Lobbyarbeit des europäischen Bankensektors ist. Wie eine neue Untersuchung von Finanzwende zeigt, übertrafen die Lobbyisten der Bankenindustrie die Vertreter der Zivilgesellschaft bei Treffen mit der Europäischen Kommission zur Basel-III-Regulierung seit Ende 2019 mit 176 zu 2. Und wie Thierry Philiopponnat, der Chefökonom der europäischen Non-Profit-Organisation Finance Watch, in einer aktuellen Kolumne von Rana Foroohar zitiert wird:

Bestrebungen, die Basel-III-Übergangsregelungen dauerhaft zu machen, „werden die EU-Banken nicht gegen die US-Banken verteidigen, sondern nur die Interessen der europäischen Megabanken gegenüber ihren kleineren europäischen Konkurrenten schützen.“

Somit scheint die herkömmliche Weisheit, dass Amerika bei der Innovation und Europa bei der Regulierung führend ist, in Frage gestellt zu werden.

Die Europäische Union neu erfinden – Artikel
Jean Pisani-Ferry, Project Syndicate, 02.03.2023

Russlands Einmarsch in der Ukraine und neue wirtschaftliche Erfordernisse haben das langjährige Vertrauen der EU in regulatorische Standards als eine Form von Soft Power in Frage gestellt. Um in einer Welt zu überleben, in der Autokraten zunehmend die Regeln der internationalen Ordnung missachten, müssen die EU-Mitgliedstaaten einen neuen Weg der Integration finden.

„Dann hat die Regierung ihren Job verfehlt“ – „Gegen ökonomischen Unsinn muss ich mich wehren“ – Interview (Paywall)
Julian Olk & Jens Münchrath, Handelsblatt, 02.03.2023

Wirtschaftsweisen-Chefin Monika Schnitzer und IW-Direktor Michael Hüther streiten darüber, ob die Bundesregierung Steuern erhöhen sollte, um Krise und Transformation zu finanzieren.

EZB sieht sich mit der kalten Realität konfrontiert: Unternehmen profitieren von der Inflation – Artikel
Francesco Campa, Reuters, 02.03.2023

Höhere Gewinnspannen und nicht Löhne treiben die Inflation an.

Keine Angst vor Verboten – Kolumne (Paywall)
Mark Schieritz, die Zeit, 01.03.2023

Gas, Verbrennermotoren oder Zucker: Der Staat setzt Rahmenbedingungen für Produktion und Konsum. Verbote können für beide sehr hilfreich sein.

Es hilft nichts: Die Steuern müssen steigen – Kommentar (Paywall)
Claus Hulverscheidt, Sueddeutsche Zeitung, 27.02.2023

Ausgerechnet die Partei des Finanzministers hat sich in ihrer „Jede Steuererhöhung ist des Teufels“-Ideologie eingemauert. Das kann sich Deutschland nicht länger leisten.

Wie viel Arbeit kann weg? – Artikel
Malene Gürgen, taz, 26.02.2023

In Großbritannien war ein Pilotprojekt zur 4-Tage-Woche erfolgreich. Was spricht dafür, dass wir weniger arbeiten? Und wie kann das konkret aussehen?

Betriebsräte helfen gegen rechts – Studie
Uwe Jirjahn, Thi Xuan Thu Le, Januar 2023

Gibt es in einem Betrieb eine Arbeitnehmervertretung, tendiert die Belegschaft weniger zu rechtsradikalen Parteien. Das ist das Ergebnis einer Studie.

Wo und wie sollte die Grenze zwischen staatlicher und privater Tätigkeit gezogen werden? Laut Diane Coyles Rezension von Mariana Mazzucatos neuestem Buch ‚The Big Con: How the Consulting Industry Weakens Our Businesses, Infantilizes Our Governments and Warps Our Economies‘ ist diese Frage das eigentliche Thema des Buches:

Wir würden nicht wollen, dass die Regierung ihr eigenes Briefpapier herstellt, anstatt es zu kaufen, oder dass Krankenhäuser ihre eigenen Wundauflagen herstellen. Ähnlich verhält es sich mit Gehaltsabrechnungen oder Kurierdiensten – obwohl diese bis in die 1980er Jahre sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor weitgehend selbst hergestellt wurden. Aber was ist mit IT-Systemen? Oder mit Kataraktoperationen? Die Auslagerung von Kataraktoperationen scheint im Allgemeinen nicht gut gelaufen zu sein, wenn man an die zahlreichen prominenten und kostspieligen IT-Ausfälle denkt, während der technologische Fortschritt es einfach und effizient gemacht hat, Kataraktoperationen an spezialisierte private Anbieter auszulagern.

Wenn man über die Kosten des Outsourcing nachdenkt, sollte man daher nicht nur die Kosten im Zusammenhang mit asymmetrischen Informationen und den Preis für die Überwachung der Agenten (z. B. Beratungsunternehmen) berücksichtigen, sondern auch die Lock-in-Kosten, die die staatlichen Kapazitäten niedrig halten. Wie Henry Mance in der Financial Times schreibt:

Berater und Outsourcer, so Mazzucato, wissen weniger, als sie behaupten, kosten mehr, als sie vorgeben, und verhindern langfristig, dass der öffentliche Sektor interne Fähigkeiten entwickelt. Wir sind nicht gegen Berater. Das Problem ist, wenn eine Branche keinen Anreiz hat, die Regierung zur Unabhängigkeit zu bewegen. Ein Therapeut, der seinen Klienten ewig in Therapie hält, ist offensichtlich kein sehr guter Therapeut. Berater seien auch nicht „neutral“, was die Rolle des Staates angehe, argumentiert Mazzucato und verweist auf ihre Arbeit im privaten Sektor. Sie setzten sich für eine Verschlankung des Staates nach 2008 ein.

Darüber hinaus sollten positive Spillover-Effekte öffentlicher Investitionen in der Kalkulation nicht fehlen. Die Regierungen müssen lernen, wie sie für ihre Investitionen belohnt werden können, und nicht nur private Aktivitäten risikoärmer machen, ohne die Vorteile zu ernten. Mazzucato empfiehlt, den öffentlichen Dienst zu stärken, die internen Kapazitäten innerhalb der Regierung wieder aufzubauen, das Verfahren für die Auftragsvergabe und die Bewertung der ausgelagerten Ergebnisse zu verbessern und von Beratungsunternehmen zu verlangen, Interessenkonflikte offenzulegen, wenn sie sich um Aufträge im öffentlichen Sektor bewerben.

In diesem Artikel sind die Hauptargumente des Buches zusammengefasst.

1,5°C – tot oder lebendig? Die Risiken eines transformativen Wandels durch Erreichen und Überschreiten des Ziels des Pariser Abkommens – Policy Paper
Laurie Laybourn-Langton, Henry Throp & Suzannah Sherman, IPPR Blog, 16.02.2023

Das historische Versäumnis, die Klima- und Umweltkrise ausreichend zu bekämpfen, könnte Folgen haben, die die Fähigkeit der Gesellschaften in Frage stellen, die Ursachen dieser Krise zu bekämpfen.

Wie Christian Lindner die europäischen Schuldenregeln retten will – Artikel (Paywall)
Martin Greive, Handelsblatt, 15.02.2023

Der Süden Europas fordert mehr Flexibilität beim Schuldenmachen. Der Bundesfinanzminister will das verhindern – und sucht den Schulterschluss mit alten Verbündeten.

Die Rolle der Staatsverschuldung in der „neuen Normalität“ – Blogbeitrag
Peter Bofinger, Social Europe, 13.02.2023

Eine Schumpetersche Perspektive liefert neue Erkenntnisse für die Finanzpolitik in Europa.

Den Kollaps verhindern: Durch Kriegswirtschaft oder eine Öko-Diktatur? – Kolumne
Fabio de Masi, Berliner Zeitung, 11.02.2023

Der Staat wird stärker in die Wirtschaft eingreifen müssen, um den ökologischen Kollaps der Wirtschaft und soziale Verwerfungen zu verhindern. Dies muss aber keinen Verlust an Wohlstand bedeuten.

FDP ringt mit Habeck um Paradigmenwechsel in der Wettbewerbspolitik – und mit sich selbst – Artikel (Paywall)
Julian Olk, Handelsblatt, 10.02.2023

Die deutschen Wettbewerbshüter sollen so große Macht wie nie zuvor erhalten – mit Markteingriffen bis zur Zerschlagung. Die FDP spaltet die Frage, ob sie das mitmachen kann.

Eine Wirtschaftstheorie für die Ampel – Kolumne
Mark Schieritz, die Zeit, 08.02.2023

Die Regierung will die Transformation voranbringen. Leider fehlen Fachkräfte und Rohstoffe. Aber es gibt einen Ausweg.

Während einige Italien für seine mangelnde Reformbereitschaft verantwortlich machen, konzentrieren sich andere auf die geldpolitische Integration in der Eurozone oder nehmen eine Unternehmensperspektive ein. In einer neuen Studie von Max Krahé wird argumentiert, dass keine dieser Erklärungen für sich allein genommen überzeugend ist. Er vertritt die Auffassung, dass Italiens Stagnation auf zwei Schlüsselmomente zurückzuführen ist: einen gescheiterten Versuch in den 1990er/2000er Jahren, den Wachstumsrückgang zu überwinden, und die Beibehaltung dieses Politikmixes in den 2000er/2010er Jahren.

Die Studie schlägt vor, dass jedes glaubwürdige Reformpaket die tiefen Wurzeln der italienischen Stagnation angehen muss, ohne die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Eine positive Konditionalität mit Schwerpunkt auf Unternehmen, Institutionen und Investitionen könnte ein vielversprechender Weg nach vorne sein.

Die ganze Studie gibt es hier.

UNSERE THEMENSCHWERPUNKTE

Neues Leitmotiv

NEUES LEITMOTIV

Nach ein paar Jahrzehnten allzu naiven Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

Staat
neu denken

STAAT
NEU DENKEN

Jahrzehnte lang galt der Konsens, dass sich der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehen und man die Staatsschulden senken sollte, um den Wohlstand zu fördern. Dies hat jedoch zu chronischen Mängeln in Bildung und Infrastruktur geführt. Neuere Forschung versucht zu erörtern, wann es sinnvoll ist, dass sich der Staat in den Wirtschaftsprozess einmischt, um langanhaltenden Wohlstand zu garantieren und Krisen zu verhindern.

Klima
in Wohlstand
retten

KLIMA
IN WOHLSTAND
RETTEN

Zu Hochzeiten des Glaubens an die Märkte galt als bestes Mittel gegen die Klimakrise, an den Märkten einen CO2-Preis aushandeln zu lassen. Heute ist zunehmend Konsens, dass das nur bedingt funktioniert - und es weit mehr braucht, als nur einen Preis.

Ungleichheit
verringern

UNGLEICHHEIT
VERRINGERN

Das Gefälle zwischen Arm und Reich scheint selbst in einem Land wie Deutschland zunehmend den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Um den Trend umzukehren, ist es wichtig, die wirklichen Ursachen des Auseinandergehens von Einkommen und Vermögen zu verstehen.

Finanzwelt
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FINANZWELT
ERNEUERN

Auch zehn Jahre nach der Finanzkrise scheint eine wirkliche Stabilität des Finanzsystems nicht in Sicht zu sein. Risiken werden periodisch falsch bewertet und führen zu Boom-Bust-Zyklen. Ein stabileres Finanzsystem sollte kurzfristige Spekulationen erschweren, systemische Risiken begrenzen und das Vermögen gerechter verteilen.

Innovation Lab

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Brauchen wir ein ganz neues Verständnis von Wirtschaftswachstum? Was wäre eine reale Alternative? Wie praktikabel sind Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt, wenn es um die Messung von Wohlstand geht? Um diese und andere grundsätzlichere Herausforderungen geht es in dieser Sektion.

Globalisierung
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GLOBALISIERUNG
FÜR ALLE

Nach drei Jahrzehnten schlecht gemanagter Integration ist die Globalisierung durch soziale Unzufriedenheit und den Aufstieg populistischer Kräfte bedroht. Es gilt dringend die negativen Nebeneffekte auf viele Menschen zu beheben - und klarer zu definieren, welche Herausforderungen auf lokaler oder regionaler, und welche über Grenzen hinweg angegangen werden sollten.

Europa
jenseits
der Märkte

EUROPA
JENSEITS
DER MÄRKTE

Das Europa der vergangenen Jahrzehnte wurde stark vom Primat der Wirtschaft und dem Vertrauen in die Heilungskraft der Märkte geprägt. Die Euro-Krise hat dies erschüttert. Seither wird gestritten, wie die Währungsunion vor neuen Paniken besser geschützt werden kann – und wie sich das Auseinanderdriften von Ländern besser verhindern lässt.