ZEITRAUM

Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen“. Die Idee dieses berühmt-berüchtigten Zitats von Milton Friedman, dass Inflation heißt, zu viel Geld jage zu wenig Waren, ist eine der einflussreichsten in der Geschichte des ökonomischen Denkens und prägt auch die Diskussion über den jüngsten Preisanstieg.

Kürzlich wurden mit James Forder und Thomas Palley zwei Interviews mit Kritikern dieser Sichtweise veröffentlicht, die jeweils aus einer anderen Richtung kommen. James Forder argumentiert, dass es etwas gibt, das er den „Phillips-Kurven-Mythos“ nennt, eine Art Meisternarrativ der modernen Ökonomik.

Der Phillips-Kurven-Mythos ist die Vorstellung, dass in den 1960er Jahren – bevor Milton Friedman der Welt die Erleuchtung brachte – unter Ökonomen, insbesondere unter „keynesianischen“ Ökonomen, ein weit verbreiteter, aber falscher Glaube herrschte, dass die politischen Entscheidungsträger die Arbeitslosigkeit durch eine expansive Politik, die die Inflation etwas ansteigen ließ, verringern könnten, und dass dieses Ergebnis sicher über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden könnte. […] Aber der Mythos ist die Vorstellung, dass viele Menschen dies jemals geglaubt haben oder dass es der Konsens der damaligen Zeit war.

Thomas Palley hingegen erkennt an, dass Friedman einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Inflation geleistet hat – allerdings nur für eine bestimmte Art von Inflation, die er als „demand-pull“ bezeichnet. Palley unterscheidet darüber hinaus zwischen fünf weiteren Arten von Inflation (Konfliktinflation, angebotsseitige Inflation, importierte Inflation, hohe Inflation, Hyperinflation), die alle unterschiedliche Ursachen haben. Darüber hinaus argumentiert er im Gegensatz zu Forder auf der Grundlage der Arbeiten von Tobin, dass es sehr wohl eine systematische Phillipskurve gibt – allerdings eine, in der die Inflationserwartungen berücksichtigt werden.

Der Grundgedanke von Tobin ist, dass wir uns die Wirtschaft als eine aus vielen Sektoren bestehende Volkswirtschaft vorstellen müssen, oder als viele kleine Volkswirtschaften, die zu einer Volkswirtschaft zusammengefasst werden. Jeder Sektor ist von zufälligen Störungen betroffen. Nachfrage und Ausgaben verschieben sich zwischen diesen Sektoren. Und dies geschieht die ganze Zeit über. Zu jedem Zeitpunkt herrscht in einigen Sektoren Vollbeschäftigung, in anderen weniger als Vollbeschäftigung. […] Die implizite Ansicht von Tobin ist, dass Arbeitsmärkte wie Rolltreppen sind. Es gibt einen Schock; der lokale Arbeitsmarkt passt sich dann langsam wieder der Vollbeschäftigung an. Ein schnelleres Nachfragewachstum ist eine Möglichkeit, die Rolltreppe zu beschleunigen, so dass man schneller zur Vollbeschäftigung gelangt. Der Preis dafür ist jedoch die Inflation auf den Arbeitsmärkten in anderen Regionen, auf denen bereits Vollbeschäftigung herrscht.

Lesen Sie das Interview mit James Forder hier und das Interview mit Thomas Palley hier.

Kürzlich hat die OECD zwei deutschlandspezifische Studien vorgestellt: Der Wirtschaftsbericht für Deutschland 2023 untersucht die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Landes im Kontext globaler und nationaler Herausforderungen, darunter die anhaltende Energiekrise. Die Studie gibt politische Empfehlungen zur Stärkung des Aufschwungs. Ein Sonderkapitel analysiert, wie Deutschland seine ehrgeizigen Klimaziele erreichen. Gefordert wird unter anderem, Steuervergünstigungen abzubauen und die Verwaltung des öffentlichen Sektors zu modernisieren und zu reformieren. Außerdem soll die Steuerbelastung der Arbeitseinkommen gesenkt werden, dafür aber andere Steuern wie die Erbschafts-, Schenkungs- und Grundsteuer erhöht.

Der Umweltprüfbericht für Deutschland 2023 bewertet Deutschlands Fortschritt bei der Bewältigung umweltpolitischer Herausforderungen und untersucht, wie Ziele in den Bereichen Energie, Klima und Artenvielfalt mit einem integrierten Ansatz erreicht werden können. Besonderes Augenmerk liegt auf Deutschlands Energiewende und den Fortschritten auf dem Weg zu Klimaneutralität und nachhaltiger Mobilität. Ein Sonderkapitel nimmt das deutsche Engagement für Klimaanpassung und Investitionen in naturbasierte Lösungen unter die Lupe.

Die Hauptergebnisse des Berichts, zusammengefasst in einem Artikel der Zeit:

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat Deutschland aufgefordert, ambitionierter zu handeln, um bis zum Jahr 2045 tatsächlich treibhausgasneutral zu werden. Die OECD appellierte bei der Übergabe ihres Wirtschafts- und des Umweltprüfberichts an die Bundesregierung, bestehende Klimamaßnahmen beschleunigt umzusetzen und neue Maßnahmen zu ergreifen – vor allem in Sektoren, die ihre Ziele nicht erfüllt haben. Bedarf sehen die Expertinnen und Experten dabei insbesondere beim Sektor Verkehr. So müsse es mehr öffentliche Investitionen in den Schienenverkehr geben – vor allem in den öffentlichen Nahverkehr, um die Anbindung dünn besiedelter Gebiete an die städtischen Zentren zu verbessern.

Ein neuer Policy Brief des Delors Centre geht der Frage nach das der US-amerikanische Inflation Reduction Act (IRA) für Europas Wirtschaft bedeutet. Die Studie quantifiziert welche dramatischen Auswirkungen die US-Subventionen auf Produktionskosten für verschiedene klimafreundliche Technologien in den USA, China und Europa haben könnten.

Der US Inflation Reduction Act (IRA) hat in Europa die Befürchtung geweckt, im globalen Wettlauf um grüne Technologien den Anschluss zu verlieren. Die EU-Mitgliedstaaten sind sich jedoch uneins darüber, ob das größere Risiko in zu viel oder zu wenig öffentlicher Intervention besteht. Im Kern herrscht nach wie vor Verwirrung darüber, welche europäischen Sektoren an Wettbewerbsfähigkeit verlieren werden, wie sehr die EU über diese Verluste besorgt sein sollte, und ob es Unterstützung auf EU-Ebene braucht, um wirtschaftliche Divergenz innerhalb der EU zu vermeiden. Unser Papier unternimmt einen ersten Versuch, die verfügbaren sektoralen Daten hinsichtlich dieser Fragen zu analysieren. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass durch den IRA die europäischen Produktionskosten in mehreren Sektoren unterboten werden. Dies bedeutet nicht, dass die EU das US-Programm imitieren muss. Aber es erfordert, dass die EU ihren bruchstückhaften Industrieplan für den Green Deal in eine kohärente Strategie umwandeln muss. Dies braucht eine stärkere Konzentration auf jene grünen Industrien, in denen Europa einen Wettbewerbsvorteil entwickeln kann, sowie eine stärkere gemeinsame Finanzierung auf EU-Ebene.

Die gesamte Studie gibt es hier.

So ungerecht ist das Vermögen in Deutschland verteilt – Artikel (Paywall)
Markus Zydra, Süddeutsche Zeitung, 24.04.23

Die Vermögen in Deutschland sind extrem ungerecht verteilt. Die zehn Prozent vermögendsten Haushalte besitzen 56 Prozent des gesamten Nettovermögens, so die Bundesbank in ihrem Monatsbericht, der am Montag veröffentlicht wurde. Die vermögensärmere Hälfte der deutschen Haushalte besitzt insgesamt gerade einmal drei Prozent des Nettovermögens.

Extreme Vermögen sind ein ernsthaftes Problem für demokratische Gesellschaften – Interview
Christoph Eisenring, NZZ, 20.04.23

Gabriel Zucman ist das Enfant terrible der Ökonomenzunft. Multinationale Firmen und ihre reichen Besitzer seien die grössten Profiteure der Globalisierung, sagt er – und die steigende Ungleichheit eine Gefahr für die Demokratie. Den Steuerwettbewerb sieht Zucman als das Paradebeispiel für eine schlechte Art von Wettbewerb.

Macron plant Reformen à la Hartz – Artikel
Niklas Zaboji, Süddeutsche Zeitung, 19.04.23

Nach der Rentenreform geht die französische Regierung schon an die nächste wirtschaftspolitische Großbaustelle. Paris macht Druck auf die Sozialpartner und strebt nach Vollbeschäftigung.

Die falsche Wahl zwischen Neoliberalismus und Interventionismus – Artikel
Yuen Yuen Ang, Project Syndicate, 18.04.23

In den vergangenen 40 Jahren haben die Vereinigten Staaten und andere westliche liberale Demokratien eine Politik verfolgt, die den Märkten Vorrang vor staatlichen Eingriffen einräumt. Aber wie China und sogar die USA gezeigt haben, sind Regierungen nicht auf eine binäre Wahl zwischen Laissez-faire und Top-down-Planung beschränkt.

Wie Ungleichheit die Klimatransformation blockiert – Blogbeitrag
Julia Cremer & Vera Huwe, Makronom, 17.04.23

Neue Forschungen zeigen, dass höhere Ungleichheit auch ursächlich für die Klimakrise ist. Notwendig ist daher eine klimasoziale Politik, um die Effektivität von Klimaschutzmaßnahmen zu steigern.

»Kontakte zu Reicheren sind der entscheidende Faktor für den Aufstieg« – Interview
Nicolas Abe, Der Spiegel, 16.04.23

Wer steigt auf im Leben, wer bleibt zurück – und wovon hängt das ab? Der Harvard-Ökonom Raj Chetty hat riesige Datenmengen ausgewertet. Er kann diese Fragen für jede Gegend der USA beantworten.

Mythos Verzicht: So funktioniert Klimaschutz nicht – Essay
Frank Wiebe, Handelsblatt, 05.04.23

Um die Welt zu retten, müssen wir das Wirtschaftswachstum stoppen oder sogar umkehren, heißt es. Das klingt plausibel, lenkt aber nur von einer konsequenten Klimapolitik ab.

Schuldenregeln bringen einen grundlegenden Zielkonflikt zwischen Durchsetzbarkeit und Flexibilität mit sich. In einem kürzlich veröffentlichten Artikel scheint es dem deutschen Finanzminister Christian Lindner nur um Verbindlichkeit zu gehen, ohne anzuerkennen, dass es überhaupt einen Konflikt gibt. Weil er befürchtet, dass die Höhe der Staatsverschuldung zu einem „Gegenstand politischer Verhandlungen“ wird, fordert er eine bessere Durchsetzung durch eine einheitliche Regelung, um „jedes Jahr einen ausreichenden Schuldenabbau“ zu gewährleisten.

Gemeinsame finanzpolitische Regeln müssen einen raschen und ausreichenden Abbau von Defiziten und hohen Schuldenquoten gewährleisten und gleichzeitig die notwendigen öffentlichen und privaten Investitionen ermöglichen. Die Verbesserung der Qualität der öffentlichen Finanzen durch Prioritätensetzung bei den Ausgaben ist nach wie vor entscheidend. Um diesen Zielen gerecht zu werden, müssen die erstmals im Vertrag von Maastricht festgelegten Referenzwerte von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Defizitquote und 60 Prozent des BIP für die Schuldenquote unangetastet bleiben. Das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit im Falle eines Verstoßes gegen das 3-Prozent-Defizitkriterium war in der Vergangenheit unser wirksamstes Durchsetzungsinstrument. Daran darf sich nichts ändern. […]

Darüber hinaus sind Schutzbestimmungen erforderlich, die sicherstellen, dass die Schuldenquoten, die die Maastricht-Referenzwerte überschreiten, in jedem Jahr tatsächlich zurückgehen. Wir brauchen auch weitere Maßnahmen, um die Einhaltung durch die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sowie weniger Ermessensspielraum bei der Auslegung und Anwendung der Regeln.

Nimmt man diese Formulierung ernst, so scheint der Vorschlag die Probleme einer prozyklischen Finanzpolitik und politischer Zwänge zu ignorieren, worauf Sander Tordoir hindeutete.

Wie Olivier Blanchard und Jeromin Zettelmeyer in einem kürzlich erschienenen Bericht schreiben, geht der deutsche Vorschlag zudem auf das Hauptproblem des Kommissionsvorschlags ein: Transparenz und gemeinsame Regeln für den Rahmen der Schuldentragfähigkeitsanalyse (DSA). Während Deutschland DSAs als ein Tier zu betrachten scheint, das nicht gezähmt werden kann und daher in einem Käfig gehalten werden muss“, betonen Blanchard und Zettelmeyer die Stärke von DSAs, um Schuldenrisiken und Anpassungsbedarf zu identifizieren“. Sie schlagen daher transparente Regeln für den Rahmen vor, um die Bestie zu zähmen:

Aber DSAs beißen nicht, und sie können sicherlich gezähmt werden. Anstatt zu einfachen numerischen Regeln zurückzukehren, sollten sich die deutsche Regierung – und die Kommission – darauf konzentrieren, die Schlussfolgerung des Rates umzusetzen, dass „der Zielpfad der Kommission auf einer zu vereinbarenden gemeinsamen Methodik beruhen sollte, die replizierbar, vorhersehbar und transparent ist und eine Analyse der öffentlichen Verschuldung und der wirtschaftlichen Herausforderungen umfassen sollte.

In seinem Artikel scheint Linder mit einem Ende der Reform zu drohen:

Die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts kann kein Selbstzweck sein. Sie ist nur akzeptabel, wenn wir den Rahmen deutlich verbessern. Andernfalls wäre es nicht ratsam, die Regeln zu ändern.

Wie Blanchard und Zettelmeyer argumentieren, wäre dies „gefährlich für die Zukunft und ein schwerer Schlag für den Aufbau der EU, der um jeden Preis vermieden werden muss“.

UNSERE THEMENSCHWERPUNKTE

Neues Leitmotiv

NEUES LEITMOTIV

Nach ein paar Jahrzehnten allzu naiven Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

Staat
neu denken

STAAT
NEU DENKEN

Jahrzehnte lang galt der Konsens, dass sich der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehen und man die Staatsschulden senken sollte, um den Wohlstand zu fördern. Dies hat jedoch zu chronischen Mängeln in Bildung und Infrastruktur geführt. Neuere Forschung versucht zu erörtern, wann es sinnvoll ist, dass sich der Staat in den Wirtschaftsprozess einmischt, um langanhaltenden Wohlstand zu garantieren und Krisen zu verhindern.

Klima
in Wohlstand
retten

KLIMA
IN WOHLSTAND
RETTEN

Zu Hochzeiten des Glaubens an die Märkte galt als bestes Mittel gegen die Klimakrise, an den Märkten einen CO2-Preis aushandeln zu lassen. Heute ist zunehmend Konsens, dass das nur bedingt funktioniert - und es weit mehr braucht, als nur einen Preis.

Ungleichheit
verringern

UNGLEICHHEIT
VERRINGERN

Das Gefälle zwischen Arm und Reich scheint selbst in einem Land wie Deutschland zunehmend den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Um den Trend umzukehren, ist es wichtig, die wirklichen Ursachen des Auseinandergehens von Einkommen und Vermögen zu verstehen.

Finanzwelt
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FINANZWELT
ERNEUERN

Auch zehn Jahre nach der Finanzkrise scheint eine wirkliche Stabilität des Finanzsystems nicht in Sicht zu sein. Risiken werden periodisch falsch bewertet und führen zu Boom-Bust-Zyklen. Ein stabileres Finanzsystem sollte kurzfristige Spekulationen erschweren, systemische Risiken begrenzen und das Vermögen gerechter verteilen.

Innovation Lab

INNOVATION LAB

Brauchen wir ein ganz neues Verständnis von Wirtschaftswachstum? Was wäre eine reale Alternative? Wie praktikabel sind Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt, wenn es um die Messung von Wohlstand geht? Um diese und andere grundsätzlichere Herausforderungen geht es in dieser Sektion.

Globalisierung
für alle

GLOBALISIERUNG
FÜR ALLE

Nach drei Jahrzehnten schlecht gemanagter Integration ist die Globalisierung durch soziale Unzufriedenheit und den Aufstieg populistischer Kräfte bedroht. Es gilt dringend die negativen Nebeneffekte auf viele Menschen zu beheben - und klarer zu definieren, welche Herausforderungen auf lokaler oder regionaler, und welche über Grenzen hinweg angegangen werden sollten.

Europa
jenseits
der Märkte

EUROPA
JENSEITS
DER MÄRKTE

Das Europa der vergangenen Jahrzehnte wurde stark vom Primat der Wirtschaft und dem Vertrauen in die Heilungskraft der Märkte geprägt. Die Euro-Krise hat dies erschüttert. Seither wird gestritten, wie die Währungsunion vor neuen Paniken besser geschützt werden kann – und wie sich das Auseinanderdriften von Ländern besser verhindern lässt.