NEUES LEITMOTIV
Newsletter: Wendepapiere gegen den Trend - Symposium zu Folgen der US-Wahl und deutschem Regierungs-Aus
Aus unserer Forum New Economy Newsletter Reihe
VON
THOMAS FRICKEVERÖFFENTLICHT
8. NOVEMBER 2024LESEDAUER
4 MIN.Liebe Freunde, Kolleginnen und Kollegen,
eine liberale Partei, die inmitten von Wirtschaftskrise und Regierungsdrama ein Grundsatzpapier vorlegt, das ultimativ eine marktliberale Wende verlangt. So radikal, dass der Kanzler gar nicht mitziehen kann. Darauf der Bruch. Und nach Neuwahlen der Wechsel in eine neue Regierung. So war das 1982, als Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff sein Scheidungspapier lancierte. Etwa so, scheint es, wie Christian Lindner vorige Woche, als er erst ein (marktliberales) „Wirtschaftswende“-Papier einwarf, um als Finanzminister ein paar Tage darauf entlassen zu werden. Bruch. Neuwahlen. Und bald der Wechsel in eine neue Regierung?
Aufmerksame Polit-Beobachter haben bereits darauf hingewiesen, dass die Parallele damit zu Ende sein könnte – schon weil es nach Stand der Dinge keine Mehrheit für den Wechsel in eine Koalition mit der CDU gibt. Fataler könnte noch etwas anderes sein: als Lambsdorff 1982 sein ordoliberales Papier formulieren ließ, maßgeblich vom späteren Bundesbankchef Hans Tietmeyer, war das Marktliberale gerade dabei, zum großen Leitbild für Jahrzehnte zu werden. In Großbritannien regierte die eisern marktliberale Margaret Thatcher, in den USA Ronald Reagan. Das neue Dogma galt bald in fast allen großen Organisationen – vom IWF über die OECD bis zur Europäischen Gemeinschaft: Washington Consensus. In Deutschland hatten führende Berater wie die des Sachverständigenrats ihre angebotspolitische Wende verkündet.
Heute fordert die OECD den Mindestlohn. Der IWF drängt zur Reform der Schuldenbremse. Und in der EU hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass allzu strikte Defizitregeln nach altem ordoliberalem Rezept nicht gut sind. Nicht, weil das gerade eine Marotte ist, sondern weil das Gros der neueren Forschung genau dahin weist.
Seit Jahren erforschen Ökonomen und Ökonominnen, warum etwa am Arbeitsmarkt ein Machtungleichgewicht herrscht, das gegen allzu viel Deregulierung spricht. Oder warum es in bestimmten Situationen gute Gründe für eine Industriepolitik gibt. Warum das einst versprochene Trickle Down – bei dem der Reichtum von oben zu allen sickert – eine Illusion ist, und freie Märkte ohne Gegenwirken vielmehr zu einem fatalen Auseinanderdriften der Einkommen und Vermögen führen. Warum eine Klimapolitik nur über den Markt nicht funktioniert. Und warum es gefährlich sein kann, an strikten Schuldengrenzen festzuhalten. Oder dass es in einer Welt geoökonomischer Spannungen wichtig ist, nationale Produktion zu subventionieren.
Dass die alten Zeiten vorbei sind, spiegelt sich selbst in den USA, wo diese Woche der noch größere politische Schock passiert ist. So groß der Graben zwischen Republikanern und Demokraten ist: weder die einen, noch die anderen streben eine Rückkehr zur alten „Free-Trade“-Doktrin an. Ob beim Sanktionieren durchsubventionierter chinesischer Importe oder in Sachen Industriepolitik – da geht’s eher um die Art und Weise, nicht darum, wieder auf Markt zu setzen.
Nicht jedes politische Papier muss den Stand der modernen Ökonomie spiegeln. Und Erkenntnisfortschritt entsteht auch nicht über Mehrheiten. Bedenklicher ist, wie hartnäckig sich die marktliberal-angebotspolitischen Heilsversprechen in Deutschland anno 2024 noch halten.
Was zu gefährlichen Fehldiagnosen führt wie der, dass Deutschland vor allem und über alles mit schwindender Wettbewerbsfähigkeit zu kämpfen hat – und Wirtschaftswende-Papiere versprechen, das Land vor allem wieder wettbewerbsfähiger zu machen: in einem Moment, in dem die deutschen Exporteure dreistellige Milliarden mehr verkaufen, als nach Deutschland eingeführt wird. Und in einer Zeit, in der es einen US-Präsidenten hat, der genau das beklagen und sanktionieren wird.
Was die Wahl Donald Trumps für die USA und Deutschland bedeutet, diskutieren wir bei unserem Symposium am 19. November – mit Joe Kaeser, Simon Jäger, Cathryn Clüver Ashbrook, Isabella Weber, Harold James und anderen. Anmeldung – hier.
Ein schönes Wochenende,
Thomas Fricke
Dieser Text stammt aus unserer zweiwöchig erscheinenden Newsletter-Reihe. Zur Anmeldung geht es hier.